Myopia der österreichischen Bildungspolitik
Österreichische Bildungspolitik scheint, wenn überhaupt, am kurz- bis mittelfristigen Ausbildungsbedarf orientiert und in dieser Frage in eine parteipolitische Graben- und Stellungsauseinandersetzung geraten zu sein, der nicht nur die Zukunft unserer Kinder, sondern auch den Wirtschaftsstandort Österreich beschädigt. Angesichts vielschichtiger internationaler Entwicklungen und deren Auswirkungen auf Berufsbilder und den Arbeitsmarkt agiert österreichische Bildungspolitik immer noch so, als lebten wir in den 70er Jahren.
Der Arbeitsmarkt befindet sich in einem rasanten Umbruch
Die sog. „Vierte Industrielle Revolution” wird bislang kaum absehbare Auswirkungen auf alle Bereiche unserer Gesellschaft haben, insbesondere auf den Arbeitsmarkt. Eine Studie der Oxford Martin School von 2013 zufolge sollen in den U.S.A. in den kommenden 10 bis 20 Jahren etwa 47 Prozent der Arbeitsplätze nicht mehr existieren, weil die entsprechenden Berufsfelder durch Automatisierung obsolet geworden sein werden. Es wird viele vielleicht überraschen, dass sich darunter auch Berufsbilder befinden wie Juristen, Buchhalter, Versicherer, Makler, Finanzanalysten, Consultants u.v.a.m.
Zur Aussicht, dass Arbeitsplätze in vielen Bereichen schwinden werden, bilden wir an Massenuniversitäten und Fachhochschulen junge Menschen aus, die sich u.a. für eben jene Berufsfelder durch ein akademisches Studium zu qualifizieren glauben. Auch wenn Werbung der Bildungsindustrie und eine ratlose Politik suggerieren wollen, dass ein Hochschulstudium der Einstieg in ein berufliche Karriere ist, Arbeit und Einkommen sichere und ein Leben in Wohlstand und Ansehen verspreche, die Zahlen der Arbeitsmarktstatistik lassen einen anderen Trend erkennen. So ist der Anstieg der Arbeitslosigkeit unter Akademikern derzeit am größten, auch wenn ihr Anteil an den Arbeitslosen insgesamt im Vergleich nach Ausbildung noch gering ist. Fachhochschulabgänger und Universitätsabsolventen stellten knapp 7 Prozent der Arbeitslosen im Juni 2016, d.s. 22.117 Personen.↑ Es braucht nicht viel Phantasie, um zu erkennen, dass die Versprechen immer weniger eingelöst werden können.
In Deutschland versucht man mit dem sog. Trialen Bildungsweg diese Risiken etwas zu reduzieren. Ob das allerdings nachhaltig wirksam werden wird, kann noch nicht gesagt werden. Jedenfalls aber dürften die Aussichten für Studierende dieses Bildungsweges etwas rosiger sein.
Das Bologna Bildungssystem steuert in die falsche Richtung
Wissenschaftler stimmen darin überein, dass kognitive Fähigkeiten, die Fähigkeit zur komplexen Problemlösung, System- und Prozesskompetenz, vor allem auch Soziale Kompetenz zentrale Potenziale darstellen. Wer über diese Fähigkeiten verfügt sei von der Automatisierung der „Vierten Industriellen Revolution” deutlich weniger betroffen.
Die Verschulungstendenzen an Universitäten und insbesondere bei Fachhochschulen laufen dieser Entwicklung allerdings entgegen. Viele glauben, dass „gute Noten” beim Studienabschluss künftig noch jenen Wert darstellen, den sie vor einigen Jahrzehnten darstellten. Weit gefehlt. Angesichts der Leistungs- und Noteninflation ist die Aussagekraft von Noten geschwunden. In Deutschland gibt es große Industriebetriebe, die Noten als Auswahlkriterium nicht mehr heranziehen, sondern ausschließlich auf Potenziale der Bewerber abstellen. Welche Aussagekraft hat bspw. ein Summa cum Laude einer Hochschule, wenn bspw. in den Wirtschaftswissenschaften gleich an neun deutschen Universitäten jede zweite Promotion mit „summa cum laude“ bewertet wird, an der Universität Kiel sogar 76 Prozent? (Alexander Schäfer, FAZ vom 25.03.2013) Dass die Beurteilungen von Bachelor und Master Abschlüssen in solchen Fällen noch inflationärer gehandhabt werden, kann begründet angenommen werden.
Die Zahl an Studierenden, die bei kritischer Betrachtung keine entsprechende Hochschulreife mitbringen, wächst stetig. Inzwischen liegt der Anteil der Studierenden bspw. in Deutschland, die zuvor kein Gymnasium besucht haben, bei über 50 Prozent. Auch deshalb stehe hinter der formalen Studienberechtigung oftmals keine tatsächliche Studienbefähigung (Siems, Dorothea, Die Welt, 11.4.2016). Entsprechend sinkt das Anspruchsniveau. Im gesamten Bildungssystem, und das gilt insbesondere auch für Österreich, hat sich eine „Kultur des Durchwinkens” von der Grundschule über das Gymnasium bis zur Universität etabliert. Die Bildungspolitik scheint so fixiert auf eine dem OECD Durchschnitt entsprechende Akademikerquote zu sein, dass sie darüber vergisst danach zu fragen, ob eine Volkswirtschaft wie die Österreichische dies in dieser Form braucht und die Folgen dieser verfehlten Bildungspolitik verkraftet.
Bildungsexperten sind sich darin einig, dass “trotz gestiegener guter Schulabschlüsse […] die Anzahl der jungen Menschen [steigt], die gleich zu Beginn einer Berufsqualifikation in Unternehmen oder Hörsälen mit fehlenden Grundlagenkompetenzen hinsichtlich Sprache und Mathematik zu kämpfen haben". (Die Welt, 11.4.2016)
Die guten Noten in Folge der Noteninflation korrelieren dabei nicht selten mit einem übersteigerten Selbstbewusstsein der Abgänger, als ob Noten immer etwas über Kompetenzen aussagten. Das als „Dunnig-Kruger Effekt” beschriebene Phänomen ist immer häufiger anzutreffen, nicht in allen Fächern gleichermaßen, aber in manchen gehäuft. Die zu erwartenden Auswirkungen auf Unternehmen und Gesellschaft sind bedenklich.
Die Mittelschule ist als Durchlauferhitzer eine Fehlkonstruktion
Der gesellschaftspolitisch begründete Anspruch auf ein Zugangsrecht zur Bildung ohne Ansehen der gesellschaftlichen Herkunft ist nachdrücklich zu unterstützen, ist ein Grundrecht. Die daraus im Reflex abgeleitete Forderung auf Zugang zu höherer formaler Bildung für alle ohne Rücksicht darauf, ob sie die Voraussetzungen dafür mitbringen ist hingegen absurd. Es ist nicht anmaßend festzustellen, dass es quer durch alle Gesellschaftsschichten hindurch Gescheite und weniger Gescheite in Bezug auf formale Bildungskarrieren gibt. Die Befähigung dazu ist kein Bürgerrecht und sie ist auch nicht unbedingt Ergebnis gesellschaftlicher Schichtzugehörigkeit, auch wenn bildungsaffine Umwelten deutlich bessere Prognosen für formale Bildungskarrieren zulassen.
Die seit vielen Jahren parteipolitisch und ideologisch geführten selbstgefälligen Debatten rund um die Neue Mittelschule, Hauptschule und Gymnasium sind mehr oder weniger anachronistisch. Diese Verzopfung lässt Österreich hinsichtlich eines der wertvollsten Assets für Wohlstand, nämlich Bildung, von Jahr zu Jahr weiter zurückfallen.
Wenn Bildung vorrangig als Attribut von Schichtzugehörigkeit wahrgenommen wird, wenn Politiker und Bevölkerung dem Aberglauben aufsitzen, dass eine Matura oder ein Studienabschluss per se einen gesellschaftlichen Aufstieg krönen und Wohlstand und Einfluss sichern, dann ist es schlecht bestellt um Österreich und die Bildungspolitik des Landes.
Analphabetismus und Bildungsinflation schaffen Arbeitslosigkeit und Prekariat
Über eine Million Österreicher_innen zählt die OECD zu den sogenannten funktionalen Analphabeten. Sie haben bereits Schwierigkeiten ein Kinoprogramm sinnerfassend zu lesen. Seit Jahren klagen immer mehr Ausbildungsbetriebe, dass zunehmen Lehrlinge unzureichend lesen, schreiben und rechnen können. Selbst an Hochschulen werden immer wieder Bachelorarbeiten nicht approbiert, weil teils massive Rechtschreibe- und Grammatikschwächen das nicht zulassen.
Welche Arbeitsplatzchancen haben diese jungen Menschen in Arbeitsmärkten in Folge radikaler Veränderungen, die die „Vierte Industrielle Revolution”, /„Industrie 4.0” verursachen wird?
Zweifellos verfügt Österreich über ein hohes Potenzial begabter und bestens ausgebildeter junger Menschen. Zweifellos sind spezielle Förderungen für Startups wichtig und sicherlich stimmt es, dass erfolgreiche Gründungen, insbesondere im IT Bereich Arbeitsplätze schaffen. Unterschlagen wird dabei jedoch, dass es sich um qualifizierte Arbeitsplätze handelt. In diesem Umfeld wird kein funktionaler Analphabet eine Anstellung bekommen und auch die allermeisten derer, die die Bildungsindustrie entlässt, werden hier kaum Chancen haben.
Wohin also mit all den vielen Menschen, die jetzt schon Probleme haben, einen angemessenen Arbeitsplatz zu bekommen, einen der ein Einkommen schafft, mit dem man auskommen kann, ohne jeden Cent umdrehen zu müssen und ohne in einer prekären Lebenssituation festzusitzen?
Es ist keine Option den Schulabbrechern, jenen ohne Ausbildung zu sagen, dass ihr Risiko zeitlebens von der Mindestsicherung leben zu müssen sehr hoch ist und es nahezu aussichtslos sein wird, in den Mittelstand aufzusteigen, oder einen Abstieg aus dem Mittelstand zu verhindern- mit ganz, ganz wenigen Ausnahmen.
Die selbstgefällige Diskussion um die Neue Mittelschule und der lähmende Streit der Interessensgruppen wird das Land nicht weiter bringen. Ich sehe derzeit keinen Grund zum Optimismus. Die Österreichische Bildungspolitik verkennt die massiven Auswirkungen von Industrie 4.0 auf die Arbeitsmärkte und so treibt Österreich Zeiten hoher Arbeitslosigkeit und gesellschaftlicher Instabilität entgegen.
Lesenswerte Beiträge zum Thema /Weblinks
Weber, Stefan (2019): „Das Problem ist nicht, dass sie das Falsche studieren, sondern dass sie studieren.“ In: Addendum vom 7.3.2019