Was mir Sorgen macht: Eine hysterische Gesellschaft
Seit Jahren jagt eine Krisenmeldung die andere, sei es zuletzt die Finanzkrise, die Griechenlandkrise, die Flüchtlingskrise, Kriege in der Nachbarschaft oder auch Ebola, Schweine- oder Vogelgrippe, der Zika Virus usf. bis zu den nicht nur in Österreich seit längerem schlechten Arbeitsmarktzahlen und Wirtschaftsdaten. Sehr viele Menschen sind verunsichert, viele beunruhigt und manche davor, den Boden unter den Füßen zu verlieren, weil ihnen alles zu viel wird, sie die Kontrolle verlieren, mit anderen Worten „durch den Wind sind”.
Hysterisch reagieren zumeist überforderte Menschen, die sich oftmals selbst nicht mehr spüren und denen Bildung und Wissen fehlen, um mit den bedrängenden Situationen angemessen umgehen zu können, bzw. deren Risiken abschätzen zu können.
Mangelnde Bildung ist ein Treiber für Hysterie
Um das gleich vorweg klarzustellen. Bildung ist nicht gleichzusetzen mit Schul- und Hochschulbildung. Akademische Titel sagen letztlich verlässlich nur etwas über einen zurückgelegten formalen Bildungsweg aus (und das nicht immer).
Seit einigen Jahrzehnten verdünnt sich ein umfassender Bildungsbegriff auf Bildung im Sinne einer formalen Ausbildung und kulturellen Bildung, damit auf einen Bildungsbegriff wie er im Kulturbürgertum und der Bildungsindustrie räsoniert. Für mich gehören Herzensbildung, Empathie- und Sympathiefähigkeit ebenso dazu, wie auch Persönlichkeit, Charakter und Haltung. Wesentliche Fermente sind Wissen und Erfahrung.
Die Fähigkeit zu (selbst-)kritischem, anspruchsvollem Nachdenken ist für mich ein wesentlicher Kern von Bildung, ebenso wie die Fähigkeit zur konkreten Problemlösung, also die Lösungskompetenz angefangen von alltäglichen Herausforderungen bis hinein in die anspruchsvollsten wissenschaftlichen Disziplinen und deren Herausforderungen.
Ein an Effektivitäts- und Effizienzkriterien orientiertes Nachdenken greift zu kurz, kommt oftmals über reinen Zweckrationalismus nicht hinaus.
Je weniger Menschen in der Lage sind, Zusammenhänge zu erkennen, kein ausreichendes Wissen besitzen, um Beispiele in der Geschichte heranziehen zu können usf. desto eher gehen diese Menschen in die Überforderung und reagieren im Wesentlichen entsprechend den angeborenen, tief im Stammhirn wurzelten Reflexen: Flucht, Sich-Tot-Stellen, Angreifen. Hysterische Erregung endet nicht selten in Panik. Diese Panik passiert nicht einfach so, sondern sie ist in zunehmenden Maße Ergebnis gezielter Strategien.
Getrieben von der Unfähigkeit zur Risikoeinschätzung
Wer in Panik ist, hysterisch, „verliert schnelle den Kopf”, ist schnell „kopflos” — die Umgangssprache bringt es auf den Punkt. Wer kopflos ist und emotional überfordert, wird schnell zum Opfer.
Gerd Gigerenzer weist auf die stark zunehmende Unfähigkeit zur Risikoeinschätzung hin ↑, also auf die Unfähigkeit rational abwägen zu können, welche Eintrittswahrscheinlichkeit ein Risiko hat und welche Möglichkeiten zur Prävention es geben könnte. Menschen, welchen diese Fähigkeit fehlt, sind leicht manipulierbar, denn sie sind hoffnungslos überfordert und rufen nach einfachen Lösungen.
In einer solchen Überforderung erreichen rationale Argumente diese Menschen nicht mehr. Handelt es sich dabei um einzelne oder wenige Menschen, so sind die Folgen eher privater Natur und können abgefangen werden. Problematisch wird es, wenn sehr viele Menschen ihren Kopf verlieren. Hier greift die „Psychologie der Massen” mit all ihrer Unberechenbarkeit.
Um das an einem aktuellen Beispiel zu illustrieren: Recep Tayyip Erdoğan wollte sich nicht mit relativ eingeschränkten Macht eines Präsidenten zufrieden geben. Er zielte auf eine Verfassungsänderung in Richtung Präsidialsystem, wozu ihm eine entsprechende Mehrheit seiner Partei im Parlament helfen sollte. Nachdem jedoch erstmals die prokurdische HDP bei den Parlamentswahlen die 10 Prozent Hürde für den Einzug in das Parlament genommen hatte und mit 13 Prozent ein historisches Ergebnis erzielte, war die absolute Mehrheit der AKP verloren und Erdoğans Plan gescheitert. Die Art und Weise, wie die sich anschließenden Koalitionsverhandlungen geführt wurden, ließ unschwer erkennen, dass Erdoğan auf Neuwahlen abzielte. Um die prokurdische Partei zu schwächen und zu desavouieren sabotierte er gezielt die eigene Aussöhnungpolitik mit den Kurden und destabilisierte die Sicherheitslage in der Türkei. Als sein Kalkül, damit die Neuwahlen zugunsten der AKP zu beeinflussen, aufgegangen war, befand sich die Türkei schon nahe am Rand eines Bürgerkriegs. Erdoğan gelingt es seither nicht mehr, diese Dynamik aufzuhalten. Er glaubte wohl, dass in Angst und Panik geratene große Bevölkerungsteile kontrollierbar wären — wobei ich nicht ausschließen möchte, dass er das immer noch glaubt. Klar ist, dass weder die militanten Kurden noch die aufgescheuchte Bevölkerung in der Lage waren, Erdoğans Spiel zu durchschauen, die Risiken abzuwägen und entsprechend zu handeln. Diese Unfähigkeit zur Risikoeinschätzung wurde durch politische Interessen instrumentalisiert.
Opfer der Schock-Strategie von Kapitalismus und Politik
In ihrem 2007 erschienen Buch „Die Schock Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus” hat Nomi Klein sehr klar auf die Instrumentalisierung dieser Überforderung insbesondere durch den Kapitalismus hingewiesen. Die Taktik ist einfach: „Auf eine große Krise oder einen Schock warten, dann den Staat an private Interessenten verfüttern, solange die Bürger sich noch vom Schock erholen, und schließlich diesen ‚Reformen’ rasch Dauerhaftigkeit verleihen.” (Klein 2009, 17) Vater dieser Taktik ist Milton Friedman mit seiner Doktrin: „Nur eine Krise — eine tatsächliche oder eine empfundene — führt zu echtem Wandel. […] Das ist meiner Ansicht nach unsere Hauptfunktion: Alternativen zur bestehenden Politik zu entwickeln, sie am Leben und verfügbar zu halten, bis das politisch Unmögliche politisch unvermeidlich wird.” (Friedman, 1965, zit. nach Klein, ebd.)
Am anschaulichsten wird diese Schockstrategie nach den Attentaten vom 11.9.2001. Dies führte nicht nur dazu, dass der Staat in einem ungeahnten Maße demokratische Grundrechte einschränken konnte unter dem Vorwand, Sicherheitslücken in der staatlichen Infrastruktur schließen zu können (Stichwort: Heimatschutz/ Homeland), sondern auch dazu, Sicherheitsaufgaben zu privatisieren. Ein Geschäft für die politischen und bürokratischen Eliten und führende Unternehmen, zu Lasten der Bevölkerung.
Auch die Bedrohung durch den sog. Grippevirus H1N1, dem Menschen bereits in größerer Zahl zum Opfer gefallen sind, scheuchte die Menschen derart auf, dass Staaten ohne große Probleme Milliarden für Influenza Mittel der Pharmaindustrie ausgaben, denen man nachsagte, sie seien gänzlich unwirksam.
2006 kaufte die Republik Österreich zum Schutz gegen die Vogelgrippe Pandemie-Schutzmasken für insgesamt 275.591 Euro von einer Österreich-Tochter des deutschen Medizintechnikkonzerns Drägerwerk AG & Co. In der Hysterie vor einer pandemischen Ausbreitung der Vogelgrippe fragte niemand so genau nach. Erst später wurden Fragen gestellt über die Verwicklung des Lobbyisten Menstorff-Pouilly und zum Umstand, dass dessen Frau Maria Rauch-Kallat zur dieser Zeit im Gesundheitsministerium als Ministerin Verantwortung trug. (↑ ↑) Die Republik Österreich blieb auf den Masken sitzen.
Aktuell sind es wieder Terroranschläge und Flüchtlingskrise, die Menschen in helle Aufregung treiben. Nicht ganz ohne Kalkül wurde von den Anschlägen im November in Paris als dem französischen 9/11 gesprochen – und tatsächlich wurden auch in Frankreich die verfassungsrechtlich geschützten Grundrechte für Monate außer Kraft gesetzt und der Ausnahmezustand erklärt - in seiner Verlängerung bis zum 26. Mai. Niemand kann abschätzen, ob und in welchem Umfang der Ausnahmezustand missbraucht worden ist, bzw. missbraucht wird.
In Verbindung mit der Unfähigkeit zur Risikoeinschätzung räumen kopflose Menschen dem Staat und den dahinter stehenden Interessen Rechte ein, die nicht mit dem Geist der Verfassung in Einklang gebracht werden können. Wobei angemerkt werden muss, dass sich nicht genau sagen lässt, wie viele Menschen von der Hysterie erfasst sind, da Meldungen unter dem Aspekt der veröffentlichten Meinung und Propaganda mit großer Zurückhaltung und Vorsicht interpretiert werden müssen.
Angst und Hysterie gefährden die Demokratie
Menschen, die von Ängsten getrieben, kopflos agieren und hysterisch sind leicht manipulierbar. Diese Menschen merken oft gar nicht, dass genau diese Überforderung für sie die größte Gefahr darstellt.
Polen liefert dazu ein gutes Beispiel. Die Flüchlingssituation, der sich vor allem Österreich, Deutschland und Schweden gegenüber herausgefordert sahen, diente rechten Kräften der polinischen Politik um den Staat zu entern. Mit einem verschwindend geringem Ausländeranteil von 0,27 Prozent ließen sich große Wahlermassen in eine Angst vor „Überfremdung” und „Islamisierung” treiben, die Kaczyński und seine PiS an die Macht brachten. Kaum an der Macht demontierten sie in großer Eile demokratische Grundpfeiler wie die Medienfreiheit und schwächten die Gerichtsbarkeit in einer Weise, wie es ein demokratisch aufgeklärtes Europa nicht für möglich gehalten hätte. Es sind aber nicht „die dümmsten Kälber wählen, die ihre Schlächter selbser wählen”, sondern eben hysterische Menschen, die sich in ihrer Angst manipulieren ließen. Nicht alles in Umkehrbar. Auch Adolf Hitler kam 1933 durch reguläre Wahlen an die Macht und konnte so ein ihm willfähriges System etablieren mit der Bilanz eines zerstörten Europas und über 50 Millionen Toten.
Es macht mir daher Sorge, dass eine Mehrheit von aufgescheuchten, hysterischen Wähler_innen, kopflos bei Wahlen eine Entscheidung treffen könnten, deren Folgen Sie nicht abschätzen können und die letztlich dazu führen könnten, die Demokratie auszuhölen und zu gefährden.
Das Bild im Header zeigt einen Ausschnitt aus Johann Heinrich Füsslis „The Shepherd's Dream” aus dem Jahr 1786. Das Blatt, eine Zeichnung mit Schwarze Kreide, Pinsel in Grau und Braun, Rötel, laviert, mit weißer Kreide gehöht, über Bleistift (40 x 55 cm) befindet sich im Besitz der Albertina, Wien (Inventarnummer: 14652). Es ist gewissermaßen eine Vorstudie zu einem Ölbild (154,3 x 215,3 cm), das sich in der Tate Britain befindet (unter Henry Fuseli, Inventarnummer: T00876), datiert auf das Jahr 1793. Das Thema des Bildes, „The Shepherd's Dream”, bezieht sich auf eine Stelle in John Miltons „Paradise Lost”, ein episches Gedicht aus dem Jahr 1667. So schien mir der Ausschnitt der Zeichnung durchaus für einen bildlichen Verweis geeignet. (Bildquelle: Wikimedia Commons, CC0)
Conrad Lienhardt