Was mir Sorgen macht: Wenn Ethik zur Disposition steht
Es ist wohl weniger die Angst vor einer Infektion mit Sars-CoV-2 (COVID-19), als vielmehr vor den Schreckensbildern, die Politik und Medien davon zeichnen, die Verstand und Vernunft vieler Menschen gleichsam in eine Schockstarre versetzen. Giorgio Agamben meinte, dass sich bei vielen alles auf die Sorge ums „nackte Überleben” reduziert hätte, dass Menschen nun praktisch alles zu opfern bereit sind, die normalen Lebensbedingungen, die sozialen Beziehungen, die Arbeit, sogar die Freundschaften, die Gefühle, die religiösen und politischen Überzeugungen.
Sie sind aber noch zu viel mehr bereit: Sie nehmen es hin, wenn grundlegende Freiheitsrechte eingeschränkt werden, wenn die Demokratie angegriffen wird und wenn ethisches Handeln zur Disposition gestellt wird. Und doch, Wolfgang Schäuble meint, dass der Schutz des Lebens keinen absoluten Vorrang habe.
Der verengte Blick
Der auf das eigene „nackte Überleben” reduzierte Blick verleugnet letztlich jegliche soziale und ethische Verantwortung anderen gegenüber, soweit davon nicht mittelbar das eigene Überleben abhängt. Dabei gibt es Anzeichen, dass es nicht bei einer passiven Entsolidarisierung bleibt, sondern dass bestimmte Gruppen, im Kontext von COVID-19 „Risikogruppen” genannt, zunehmend ausgegrenzt und angefeindet werden.
Die Rivalität im Kampf ums Überleben kennt keine Solidarität
Sichtbar wurde diese Rivalität als Angstreflex ums „nackte Überleben” im Zusammenhang mit der Frage nach der Versorgung Infizierter bei nicht ausreichenden Ressourcen. Obwohl in Österreich die epidemische Infektion mit dem Corona Virus in Folge eines schnell verordneten Shutdowns weitgehend abgefangen werden konnte und ein Kollaps des Gesundheitssystems nicht annähernd droht, wurden ohne Not Leitlinien herausgegeben, die die Versorgung von Menschen im Fall einer Überlastung des Gesundheitssystems regeln sollten. Da gibt es in Österreich Leitlinien für die „Allokation der Intensivbetten” und zur so gefürchteten Triage. Mit anderen Worten: Leitlinien sollen Ärzte ethisch entlasten, wenn sie darüber entscheiden müssen, wem eine Chance auf Leben verweigert werden soll, damit andere eine Chance auf Weiterleben bekommen können.
Risikogruppen — Stigmatisierung von Menschen durch Etikettierung
Statistisch sind ältere Menschen, besonders jene mit einer Vorerkrankung, bei einer Infektion mit COVID-19 massiv bedroht; hier ist die Sterblichkeit am höchsten. Sie sind die größte Risikogruppe. Es ist auch jene Bevölkerungsgruppe mit der geringeren Lebenserwartung. Obendrein leisten sie keinen nennenswerten produktiven Beitrag mehr zum BIP, sondern belasten die Wirtschaft vielmehr durch hohe Kosten im Gesundheits- und Pensionssystem überproportional. Das allein scheint zu rechtfertigen, dass in einem ersten Zugriff die Triage nach Alter und Vorerkrankungen erfolgen solle: zunächst verwirken alle über 90jährigen ihr Recht auf Leben, dann die 80jährigen, die 70jährigen und auch die 60jährigen müssten laut Empfehlung bei Engpässen Jüngeren Platz machen — gewissermaßen die Pensionist*innen. Dies wird zwar heftig kritisiert, allerdings weitgehend nur unter dem Gesichtspunkt der Altersdiskriminierung.
Es gibt aber auch junge Menschen, die aufgrund einer erworbenen oder ererbten Erkrankung ein hohes Sterblichkeitsrisiko im Fall einer Infektion mit COVID-19 tragen. Auch sie sind eine Risikogruppe.
Mit anderen Worten: Zu Risikogruppen zählen alle Menschen, die biologisch geschwächt sind. Diese Schwächung vor dem Hintergrund von Ressourcenengpässen im Gesundheitswesen als Selektionsmerkmal zu definieren ist nicht nur eine Diskriminierung, es ist letztlich ein Ausweis einer zutiefst von nationalsozialistischer Ideologie infizierten Haltung, die sich anmaßt, zwischen wertem und unwertem Leben entscheiden zu können. Diese Haltung ist um nichts weniger gefährlich, als der COVID-19 Erreger selbst.
Die Bewertung von Leben als lebenswert
Die Frage nach der Problematik und der Zulässigkeit, den Wert eines Lebens zu bestimmen und diesen gegenüber einem anderen abzuwägen, wird sich in Extremsituationen zwangsläufig jenen stellen, die mit dieser Situation konkret konfrontiert sind. Das ist das eine. Das andere ist, strategisch im Rahmen eines Krisenmanagements fern ab einer Extremsituation, quasi am „grünen Tisch”, Ressourcenengpässe auf Kosten von Leben zu managen und Leitlinien zu erstellen und sogar darüber zu diskutieren, ob diese Leitlinien verpflichtend umgesetzt werden sollen.
Unerträglich ist die Bemerkung des Tübinger Oberbürgermeisters gegenüber der DIE WELT, wonach bei uns Leben alter Menschen gerettet würden, die möglicherweise ohnehin nur noch ein halbes Jahr zu leben hätten und dafür weit mehr andere Leben durch eine absichtlich herbeigeführte Weltwirtschaftskrise geopfert würden.
Die Haltung, man könne technokratisch über Leben verfügen, weil man die Macht dazu habe, ist brandgefährlich. Sie wird nachvollziehbar – aber deswegen noch lange nicht verständlich oder gar entschuldbar – im Verweis auf die im Zusammenhang mit COVID-19 immer wieder gebrauchten Kriegs-Metapher. Im Krieg entscheiden die Feldherren, welche taktische oder strategische Maßnahmen welche Opfer erforderlich machen. Daher ist die Verwendung der Kriegs-Metapher fatal und zu verurteilen. Und mit ihr ist ebenso der Versuch zu verurteilen, auf Regierungsebene strategisch über den Wert des Lebens der Menschen im Land zu befinden.
Ausgrenzung und Isolation von Risikogruppen
Die so genannte „Neue Normalität”, wie das im Ideologiesprech neoliberal organisierter Politik heißt, wird zu Lasten bestimmter gesellschaftlicher Gruppen hergestellt werden. Das sind wiederum die Alten und diejenigen, die durch Vorerkrankungen gefährdet sind. Sie werden isoliert, abgekapselt – zu ihrem eigenen Schutz, wie es heißt. Natürlich ist es erforderlich gefährdete Menschen zu schützen. Die Frage, die zu stellen ist, gilt dem Mindset, das Schutz als Isolation und Abkapselung denkt. Geht es um Fürsorge oder geht es darum, ein Gefahrenpotenzial zu bereinigen, damit die „Neue Normalität” wieder Platz greifen kann.
Dem kommt folgendes entgegen: Altere Menschen werden seit Jahren schleichend diskriminiert. Es wird von Überalterung der Gesellschaft gesprochen, davon, dass die Altersversorgung zunehmend ein Finanzierungsproblem darstelle, dass immer weniger Junge immer mehr Alten die Pensionen/ Renten zahlen müssen. Es wird beklagt, dass bei Wahlen ältere Wahlberechtigter die Jungen dominieren und dabei deren Zukunft gefährden, weil sie konservativ seien und die Entwicklungen vor allem im Bereich Digitales und Technologie nicht nachvollziehen könnten. In Zeiten von Jungunternehmen und Startups ist zunehmen zu hören, dass die Alten das Feld räumen sollten, aus dem Weg gehen
sollten, wie das ein Jungunternehmen erst kürzlich gegenüber einer Zeitung forderte. So wundert die Klage älterer Menschen nicht wirklich, dass sie häufig im täglichen Leben benachteiligt würden, nicht ernst genommen würden, ignoriert würden.
Menschen mit Behinderungen, seien es körperliche, geistige oder psychische, die in der Dynamik von Selbstoptimierung und Karrierestreben nicht mithalten können, sehen sich zunehmend zurück gelassen, werden häufig in entsprechende Einrichtungen und Betreuungsprogramme abgeschoben oder werden sich selbst überlassen.
Wer gesellschaftlichen Maßstäben nicht gerecht wird, wird schnell an den Rand gedrängt. Die Spanne, Randgruppen als Risikogruppen darzustellen, ist eine kurze. Noch ist der gesellschaftliche Konsens so stark, dass eine offene Diskriminierung nicht möglich scheint. Es gibt aber genug Anzeichen, dass dieser Konsens im schwinden ist. Die COVID-19 Krise macht das deutlich.
Die Bevormundung
Alle hoffen auf einen Impfstoff. Dieser würde zu einer Herdenimmunisierung führen. Es bräuchte keine besonderen Schutzmaßnahmen mehr, auch nicht in Alten- und Pflegeheimen. Dennoch. Um eine Herdenimmunisierung zu erreichen, bräuchte es eine Durchimpfungsrate von mindestens 60 Prozent, eher 80 Prozent.
Die Diskussion um die erforderliche Durchimpfungsrate gegen Masern zu erreichen ist uns von Deutschland und Österreich noch frisch in Erinnerung. Der Widerstand gegen eine Impfung gegen COVID-19 wird nicht wesentlich geringer sein. Denn ein schnell entwickelter Impfstoff könnte noch deutlich mehr Risiken bergen, als ein schon lange erprobter Impfstoff gegen Masern. Es wird keine Langzeitstudien geben, die über Neben- und Nachwirkungen, also über Risiken des Impfstoffs verlässlich und wissenschaftlich gesichert Auskunft geben könnten. Dazu kommt das Misstrauen der Pharmaindustrie gegenüber, die schnell ein Produkt bereitstellen will, um kommerziellen erfolgreich zu sein. Widerstand gegen die Impfung, insbesondere von jungen Familien wird zu erwarten sein, zumal bei diesen das Risiko schwer an COVID-19 zu erkranken eher gering ist.
Daher ist davon auszugehen, dass der Staat in Abwägung der Interessen und Güter eine allgemeine Impfpflicht gesetzlich verankern wird. Darüber dürften sich bereits jetzt die Politiker*innen im Klaren und einig sein.
Die Bedenken Einzelner haben gegenüber dem Wohl der Gemeinschaft zurückzustehen. Das wird die Impfpflicht als Gesetz rechtfertigen können.
Es stellt sich nun die Frage, wie gehen die Regierungen damit um? Sie müssten bereits jetzt anfangen darüber aufzuklären. Sie müssten rückhaltlose Transparenz zusichern und glaubhaft und vollständig über die (bekannten) Risiken einer Impfung aufklären. Sie müssten letztlich auch Vorsorge treffen für den Fall, dass Nebenwirkungen der Impfung auftreten, z.B. in entsprechender finanzieller Absicherung entsprechender medizinischer Versorgung schlimmstenfalls bis hin zu einer Invaliditätsrente. Das alles wird aber nicht passieren. Es wird eine Impflicht gesetzlich verfügt werden und mögliche Impfrisiken werden auf die jeweilige Person abgewälzt werden. Sie wird keine Chancen haben, Pharmafirmen erfolgreich zu verklagen. Für Politik, Pharmaindustrie und Wirtschaft werden das - zwar bedauerliche - aber doch Kollateralschäden sein.
Verteilungsgerechtigkeit
Diskriminierung führt zu unterschiedlichen Infektionsrisiken und höherer Sterblichkeit
Die Pest kennt kein Ansehen der Person, es verschont weder Reiche noch Arme, weder Würdenträger noch Obdachlose und so fort, hieß es. Aber trifft dies auch auf COVID-19 zu? Anfangs schien es so, denn betroffen waren zunächst die Jetset Society, die Bussi Bussi Gesellschaft lange bevor das Virus Flüchtlingslager erreichte.
Doch schon bald zeigte sich, dass die Mächtigen und Reichen deutlich weniger gefährdet sind. Für die U.S. weisen Studien nach, dass Farbige ein mehrfach höheres Risiko tragen, sich mit COVID-19 zu infizieren und auch einer deutlich höheren Sterberate ausgesetzt sind. Es ist nicht auszuschließen, dass bei Anwendung von Triage letztlich auch gesellschaftliche und soziale Aspekte angelegt werden, dass das Leben Reicher und Mächtiger als wertvoller gelten könnte, als das von durchschnittlichen Bürgern oder gar jenen, die an den Rändern unserer Gesellschaft leben. Es wird wichtig sein, bei der Aufarbeitung der COVID-19 Krise wissenschaftlich genau zu untersuchen, ob und in welchem Ausmaß es zu Diskriminierungen kam und wer, konkret welche Personen bevorzugt wurden.
Nationale Interessen und Begehrlichkeiten Privilegierter
Seit Wochen zeichnet sich ab, dass bei der Entwicklung von Impfstoffen nationale Interessen aggressiv durchschlagen. Allgemein sichtbar wurde das beim Versuch der U.S. Administration ein kleines Tübinger Bio-Tech-Unternehmen mit hohen Zahlungen dazu zu bringen, dass der dort Impfstoff exklusiv für den Einsatz in den U.S. entwickelt und bereitsgestellt werden soll. Mit der Bundesregierung Deutschland hatte die U.S. Administration zu keinem Zeitpunkt gesprochen.
Wirtschaftlichen Folgen von COVID-19 und die Lastenverteilung
Aber auch die wirtschaftlichen Folgen der COVID-19 Pandemie werden Menschen unterschiedlich hart treffen. Vieles deutet darauf hin, dass diejenigen, die im niedrigen und mittleren Einkommensbereich angesiedelt sind, vor allem aber die Armen, zu den ausgemachten Verlierern der Wirtschaftskrise zählen werden. Sie haben deutlich weniger beziehungsweise sehr häufig keine Optionen, auf die Krise entsprechend reagieren zu können.