Was mir Sorgen macht: Verschwörungstheorien und ihre Opfer
Verschwörungstheorien sind kein neues Phänomen. Durch das Internet und vor allem die Sozialen Medien, durch die Möglichkeiten von Deep Fakes, die wie Brandbeschleuniger wirken, haben Verschwörungstheorien und die dahinter stehenden Verschwörungsideologien jedoch ein neues Eskalationsniveau erreicht. Zu denken ist aktuell an die Vielzahl von Verschwörungstheorien rund um COVID-19. Aber schon 2015 zeigte sich, welche Reichweiten sie schaffen und wie destabilisierend sie auf eine Gesellschaft einwirken.
Opfer gibt es auf allen Seiten, jene, die Verschwörungstheorien Glauben schenken und jene, gegen die sich Verschwörungstheorien richten. Es gibt nicht immer den lachenden Dritten, da Verschwörungstheorien ein gewisses Eigenleben und eine Eigendymanik entwickeln. Aber häufiger werden Verschwörungstheorien gezielt als Instrumente genutzt, zur Diffamierung, Destabilisierung, Verleumdung, Verhetzung aber häufig auch, um aus dieser Dynamik Kapital zu schlagen, insbesondere geldwertes Kapital.
Die leichtgläubigen Opfer
Die „simplen Gemüter”
Zumeist sind dies Menschen mit teilweise stark eingeschränkten kognitiven Fähigkeit und häufig unzureichender Bildung. Sie spüren Veränderungen in ihrer Umgebung, sind zumeist sensibel in der Stresswahrnehmung. Da sie damit kognitiv nicht oder nur sehr unzureichend umgehen können, versuchen sie häufig, sich an anderen zu orientieren. Dies ist bei autoritätsorientierten Persönlichkeitstypen stärker ausgeprägt. Sie suchen keine fachlichen Argumente, da sie diese oftmals kognitiv überfordern. Sie suchen zunächst nach Verständnis, dass es anderen auch so geht und sie suchen Antworten, die ihr „Bauchgefühl” in Resonanz bringen - das sind dementsprechend durchwegs simple, simplifizierende Antworten auf das, was als Bedrohung erlebt, aber nicht durchschaut wird. Erwartet wird, dass nicht nur simple und sehr einfach zu verstehende Erklärungen gegeben werden, sondern ebenso, dass zur Abwehr der Bedrohungen einfache, simple Rezepte angeboten werden. Dabei wirken vor allem jene, die einem verinnerlichten Muster folgen, dass es Schuldige geben muss, die ihnen in übler, konspirativer Absicht Schaden zufügen wollen.
Die Naiven
Sie sind die Gutgläubigen, die sich unkritisch gerne der Weltsicht ihreres sozialen Resonanzraums anschließen, d.h. sich den vorherrschenden Meinungen anschließen, die in ihren Freundes- und Bekanntenkreisen kursieren. Gewissermaßen im missverstandenen Sinne von „wisdom of the crowd” und in Folge eines Phänomens, das als Echokammer gut dokumentiert ist. Sie sind der Auffassung, dass dort, wo Rauch ist, auch ein Feuer sein muss und wenn im eigenen persönlichen Umfeld Verschwörungstheorien kursieren, dann wird da schon etwas dran sein. Dazu kommt die soziale Dynamik. Es ist schwer, sich in der eigenen Gruppe gegen eine vorherrschende Meinung, gegen Gerüchte und Verschwörungstheorien zu stellen, Position in einer emotionalisierten Situation zu beziehen. Die Naiven lassen sich, so sie sich nicht zurückziehen, anstecken und instrumentalisieren. Sie verbreiten Verschwörungstheorien, selbst dann, wenn sie sie nicht unbedingt vertreten. Sie sind gerne Mitläufer. Sie wollen es auch gar nicht so genau wissen, weil es sie letztlich auch nicht wirklich so sehr interessiert, um sich darüber Gedanken zu machen oder den Aufwand von Recherchen auf sich zu nehmen. So sind viele Naive auch Bequeme, die, wenn es letztlich zu einem Showdown kommt, von nichts gewusst haben wollen, nie gegen irgendjemanden etwas gehabt haben wollen, möglicherweise missbraucht wurden.
Die Bösartigen
Es gibt gar nicht so wenige, die glauben, vom Schicksal benachteiligt worden zu sein, die in ihrer Biographie für ihr Verhalten immer schon anderen die Schuld gegeben haben und es nie schafften, selbst Verantwortung für das eigene Leben und Handeln zu übernehmen. Immer wenn etwas misslang, waren es bestenfalls die Umstände, üblicherweise aber missgünstige Andere. Da ist der Schritt zur Unterstellung nicht weit, sich als Opfer von Verschwörungen zu sehen. Verschwörungstheorien, die das befördern, werden dabei gerne aufgegriffen, bestätigen sie doch längst gehegte Vermutungen und Verdächtigungen. Sie wirken enorm entlastend, denn sie fragen nicht nach dem eigenen Anteil, der eigenen Verantwortung - sie haben ein einfaches, simples Erklärungsmodell - es ist immer die Schuld anderer, verschworener Cliquen und von Profiteuren. Dieser Typ des „Bösartigen” greift Verschwörungstheorien teils mit Verbissenheit auf, getrieben von einem Impetus der Rache für alles, was in seinem Leben schief gegangen ist und für jede erdenkliche Benachteiligung, Zurücksetzung, Missachtung, für die er letztlich selbst die Verantwortung nicht übernehmen will oder kann.
Die Gekränkten
Es gibt immer mehr Menschen, die resignieren. Im Unterschied zu den „Bösartigen” reagieren sie allerdings nicht aggressiv sondern resignativ. Sie glauben den Verschwörungstheorien ebenso wenig, wie den aus ihrer Sicht vermeintlichen Tatsachenbehauptungen. Beides birgt für sie keine Perspektiven. Sie besetzen die Position der passiven Verweigerung, teils trotzig. Sie sind gegen die Impfpflicht, weil sie darin eine Form der Entmündigung und Bevormundung sehen. Sie wollen die Gründe dafür nicht in Erwägung ziehen, ebenso wenig die für Ausgangsbeschränkungen im Rahmen von COVID-19 Maßnahmen. Sie wurden nicht gefragt, nicht gesehen.Warum, so frage sie sich wohl, sollten sie sich dann konstruktiv einbringen? Wie zum Trotz verbreiten sie Verschwörungstheorien, um etwas Sand ins Getriebe zu bringen, um zu zeigen, dass sie zumindest stören können, wenn man sie nicht auf Augenhöhe respektvoll behandelt. Zumeist schrecken sie vor wilden und stark diskriminierenden Verschwörungstheorien zurück, zielen oft auf systemische und politische oder wirtschaftliche Zusammenhänge, wie beispielsweise die EU in Brüssel, die Pharmaindustrie, die Medienindustrie, nicht auf Flüchtlinge, Juden, Muslime, Frauen und so fort.
Die Trolle
Trolle sind die Zyniker unter denjenigen, die Verschwörungstheorien verbreiten. Darunter sind überproportional Soziopathen zu finden. Es macht ihnen Vergnügen, Menschen Angst zu machen, sie gegeneinander aufzuhetzen, dabei selbst aber bedeckt zu bleiben. Es sind die Voyeure von Streit, Missgunst und Leid. Aufforderungen, Desinfektionsmittel zu trinken, sind nicht untypisch für Trolle. Sie amüsieren sich darüber, dass es wirklich so dumme Menschen gibt, die das tatsächlich tun und nicht merken, dass sie hier auf den Arm genommen werden. Völlig ohne Empathie für die Menschen, den Schaden, den ihre Posts in Sozialen Medien anrichten, freuen sie sich über jeden Erfolg. Die Verschwörungstheorien sind Trollen nur ein Mittel zum Zweck, um Menschen gegeneinander aufzuwiegeln, sie bloßzustellen und ihnen schaden zu können.
Die Profiteure
Mit Verschwörungstheorien lässt sich Geld verdienen und Einfluss gewinnen. Es ist bekannt, dass Menschen, die einer Verschwörungstheorie folgen, sehr häufig auch anderen Verschwörungstheorien Aufmerksamkeit schenken. Es entsteht eine Art Sucht und Eigendynamik. Webseiten, die Verschwörungstheorien verbreiten werden häufig besucht und das Click-Verhalten der Besucher lässt sich unschwer lenken. Neben Webseiten, werden Bücher, Seminare, Vorträge vertrieben, wird ein umfangreicher Handel mit Gütern betrieben, um beispielsweise sogenannte Prepper zu versorgen. Es gibt Musik und Kunst. In gewisserweise entwickelt sich rund um Verschwörungstheorien eine Art Kulturindustrie, die sich von der Angst der Menschen und Ihrer Sucht nach diesen Verschwörungstheorien nährt. Wer auch nur ein wenig geschickt ist, kann hier sehr lukrative Geschäfte machen.
Andere nutzen Verschwörungstheorien, um eigene politische Ansichten, teils radikale Ansichten zu verbreiten oder andere Ansichten, auch Personen zu diskreditieren und zu verleumden, um gezielt öffentliche Meinung zu manipulieren oder Gesellschaften zu destabilisieren, um in dieser Situation eigene Agenden durchzusetzen. Aber dies ist selbst bereits Gegenstand von Verschwörungstheorien.
Was auch nicht unterschätzt werden sollte. Der Vorwurf, man sitze einer Verschwörungstheorie auf oder noch schlimmer, man entwickle eine Verschwörungstheorie diskreditiert diejenigen, die damit konfrontiert werden. Investigativer Journalismus hat dagegen zu kämpfen. Man muss nicht beispielsweise Gary Webb und seine „Dark Alliance” Recherchen bemühen, die schon fast in Vergessenheit geraten sind. Erinnern werden sich viele jedoch daran, dass bis Edward Snowden zahllose Dokumente leakte und nachweisen konnte, dass die NSA im großen Stil befreundete Staaten und selbst amerikanische Bürger ausspionierte, diese Behauptungen als Verschwörungstheorien qualifiziert wurden. Die Liste an Beispielen ist umfangreich.
Wie Trolle zählen auch die Profiteure letztlich zu den Opfern, denn sie irren, wenn sie glauben, dass der gesellschaftliche Schaden nicht mittelbar aber in gleicher Härte auf sie zurückschlagen wird. Sie irren, wenn sie glauben, sie könnten Dynamiken von Verschwörungstheorien kontrollieren. Ihnen sei der Zauberlehrling von Johann Wolfgang von Goethe empfohlen.
Die Opfer von Verschwörungstheorien
Letztlich zielen Verschwörungstheorien auf Progrome und Bürgerkrieg, zunächst gegen Minderheiten, dann jeder und jede gegen jeden und jede. Verschwörungstheorien sind Katalysatoren und Brandbeschleuniger gesellschaftlicher Entropie und lassen am Ende niemanden unverschont.
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