Analphabetismus und der Zynismus der Rede vom Humankapital
Spätestens seit der Bologna-Prozess in Gang gebracht wurde, kam der Begriff des Humankapitals auch in der Politik in Mode. Schon länger hatte er sich in neoliberalen Kontexten etabliert. In der globalen Wissensökonomie
, so meint die OECD, sind die Kompetenzen, das Lernen, die Talente und die Eigenschaften der Menschen – ihr Humankapital – zum Schlüssel sowohl für deren Fähigkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, als auch für ein breiteres Wirtschaftswachstum geworden.
Daraus ergibt sich zwangsläufig: Bildungssysteme können viel dazu beitragen, dass Menschen ihr Potenzial verwirklichen, aber wenn sie versagen, kann dies zu lebenslangen sozialen und wirtschaftlichen Problemen führen.
ebd.
Angel Gurría, Generalsekretär der OECD, verweist in OECD Insights schon im Vorwort auf ein zentrales Problem: Leider wird heute zu vielen Menschen nicht die Möglichkeit gegeben, ihre Fähigkeiten voll zu entwickeln. Selbst in den entwickelten Ländern schließt bis zu einem Fünftel der jungen Menschen die Sekundarschule nicht ab, was ihre späteren Beschäftigungsaussichten stark einschränkt. Dieses Versagen konzentriert sich häufig auf bestimmte Gemeinschaften und führt zu deren Ausgrenzung aus dem wirtschaftlichen und sozialen Leben.
In ganz besonderem Ausmaß sind Analphabeten davon betroffen, die Zurückgelassenen in einer neoliberalen Meritokratie.
Zweifelsohne zeigt die hohe Zahl an Analphabeten – in Österreich rund 1,34 Millionen – ein enormes Versagen der Staaten auf, das Menschenrecht auf Bildung und Teilhabe⌕ allen zu garantieren, damit sie ihre Potenziale entwickeln, ihre Persönlichkeit entfalten und ein sozial und wirtschaftlich angemessenes Leben führen können – ohne staatliche Alimentierung.
Wer nicht in ausreichendem Maße zu den sogenannten Leistungserbringern zählt, wird, so er oder sie nicht vermögend ist, schnell zum Leistungsempfänger – zumindest aus der Sicht von Regierungen.
Das Problem ist, dass Regierungen unter Leistungserbringer ausschließlich jene zählen, die zum Bruttosozialprodukt beitragen. In Österreich bekannte Bundeskanzler Kurz unverblümt, dass seine Politik darauf ziele, Leistungserbringer zu entlasten und zu belohnen. Leistungsempfänger, so bekam man den Eindruck, würden die Wettbewerbsfähigkeit des Volkswirtschaft schwächen und den Sozialstaat in erster Linie belasten.
Wenn Kurz & Co von Leistung sprechen, dann meinen sie vor allem Leistung, die sich in betriebs- und volkswirtschaftlichen Kennzahlen messen lässt. Wer über hohes Humankapital verfügt wäre dementsprechend ein wertvollerer Mensch, zumindest Staatsbürger, als jemand, der über weniger oder kein Humankapital verfügt. Das folgt der Ideologie einer neoliberalen Meritokratie, in welcher jeder und jede für den eigenen Erfolg ausschließlich selbst verantwortlich ist. Leistungsempfänger hätten dementsprechend versagt und müssten Verantwortung dafür übernehmen. Der Staat sollte Sozialleistungen als Überbrückungsleistungen verstehen, die den Übergang vom Leistungsempfänger zurück zum Leistungserbringer unterstützen sollen. Alles andere wäre Alimentierung. Die Politik einer Alimentierung, so scheint es, sehen Regierungen als Tribut, um gesellschaftliche Unruhen zu vermeiden.
Wie kann ein Staat wie die Österreichische Republik in seiner Bildungspolitik seit Jahrzehnten derart versagen, dass immer noch 40 Prozent der Pflichtschulabsolventen die Schule als Analphabeten verlassen. Mit welcher Chuzpe können Politiker von Humankapital reden, wenn sie gleichzeitig darin versagen, das Bildungssystem so zu gestalten, dass es nicht bereits am Anfang der formalen Bildung Bildungsverlierer hervorbringt. Bis zum Ende der Pflichtschule trägt der Staat die Verantwortung, dass alle zumindest Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Die politische Rede von Humankapital in Österreich ist Zynismus.
Literaturhinweise:
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Forster, Edgar (2010): Postdemokratie, Humankapital und politische Handlungsfähigkeit. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 35 (2010), H. 2, S. 104–120
Gess, Christopher (2003): Kritik der Humankapitaltheorie unter spezieller Berücksichtigung des soziologischen Ansatzes von Pierre Bourdieu. In: Kritiknetz – Zeitschrift für Kritische Theorie der Gesellschaft
Keeley, Brian (2007): Human Capital: How what you know shapes your life. OECD (= OECD Insights)
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Schäfer, Henry/ Lindenmayer, Philipp (2005): Externe Rechnungslegung und Bewertung von Humankapital: Stand der betriebswirtschaftlichen Diskussion. Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf