Neugierige, schaulustige Menschen, die sich von Unfällen, Bränden und Katastrophen magisch angezogen fühlen, zücken ihre Smartphones, machen Selfies an Brand- und Unglücksorten und reagieren ganz aggressiv darauf, wenn Einsatzkräfte sie zurück drängen, um ihre Arbeit machen zu können — solche neugierige Menschen zeigen Symptome einer zunehmend voyeuristischen, dissoziativen Störung, deren Ursache durchaus in gesellschaftlichen Entwicklungen liegen könnten.
Schaulustige werden diese Voyeure des Unglücks anderer genannt, selbst nicht betroffen aber davon erregt. Lust. Und Dummheit. Eine explosive Mischung. Und immer häufiger bleibt es nicht beim passiven Zuschauen, wie dieser Tage die Unruhen in Hamburg gezeigt haben. Da ist von Partystimmung zu lesen, wo Schaulustige eben auch mal Schaufenster einwarfen und sich plündernd bedienten. Angesteckt von kriminellen Banden, die unter dem Vorwand politischer Agitation Landfriedensbruch begehen und das auch noch geil finden. Gewalt ein unterhaltsames Spektakel nannte es der Spiegel. Die FAZ schrieb am 13.7. dazu, dass bis dahin eher unpolitische Jugendliche mit von der Gewalt faszinierten Zuschauern zu einem marodierenden Mob verschmelzen
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Unterlassene Hilfeleistung, wenn vor lauter Schau-Lust und fehlender Empathie, Vergewaltigern und Schlägern zugesehen wird, ohne zu versuchen den Opfern zu helfen oder die Polizei zu rufen ist ein weiteres Phänomen, das immer häufiger auftritt. Zivilcourage setzt voraus, dass sich jemand als Akteur eines Geschehens erlebt, auch wenn er nicht direkt betroffen ist und nicht als passiver, unbeteiligter und anonymer Beobachter.
Es gibt für das eine wie das andere zahllose Beispiele. Eine Suche im Internet liefert mehr als genug Beispiele.
Schaulustige und Gaffer sind keine neues aber ein eskalierendes Phänomen
Das Phänomen Schaulust ist altbekannt. Es finden sich Zeugnisse quer durch die Geschichte. Das Schaulustige aggressiv werden, ist weniger häufig dokumentiert und nachgewiesen. Es dürfte sich in der signifikanten Ausprägung um ein jüngeres Phänomen handeln. Entsprechend werden seit den frühen 80er Jahren Einsatzkräfte im Umgang mit ihnen geschult. Selbstverteidigungskurse gehören für Rettungskräfte mittlerweile schon in vielen Regionen zur Ausbildung.
Ein Ausbildner meinte, die Aggression von Schau-Lustigen, die weggewiesen würden, gleiche der von Menschen, die außer sich geraten, wenn ihnen jemand den Blick auf das Fernsehgerät verstellt, auf ein spannendes Fußballspiel beispielsweise. Dabei steht die Störung im Vordergrund und es fehlt die Einsicht, dass Hilfsdienste und Sicherheitskräfte nicht stören, sondern helfen und nicht selten Leben retten wollen.
Was sich auch geändert hat ist das Ausmaß der Aggression mancher Schaulustiger, die nicht davor zurückschrecken sich mit Gewalt ihren Platz in der ersten Reihe zu sichern und dabei Hilfskräfte und Sicherheitsdienste, auch die Polizei tätlich angreifen und sich selbst dabei gehörig gefährden.
Ich stelle die Hypothese auf, dass diese Entwicklung mit bestimmten Formen des Medienkonsums korreliert.
Schau-Lust als Schwelle
Robert Pfaller hat den Begriff der „Interpassivität” geprägt, den ich in etwas modifizierter Weise einbringen möchte. Pfaller bezeichnet damit eine Praxis, in der eigene Handlungen und Empfindungen an andere Menschen oder Dinge delegiert werden. Schau-Lustige delegieren nicht nur, sondern sie geilen sich an Handlungen anderer Menschen, Katastrophen und Unfällen auf, als wären die Akteure ihre Avatare, alter egos, als wären Opfer der sichtbare Beleg dafür, nicht selbst eines zu sein, nicht zu den Opfern zu zählen.
Schau-Lustigen fehlt Empathie und Scham. Es fehlt ihnen nie an Entrüstung. Aber das ist wohl nur Selbstschutz, um sich nicht als das sehen zu müssen, was sie sind. Was viele mit Empathie verwechseln ist eher eine perverse Lust oder Lust-Angst, heftige Gefühle, die viele der Schau-Lustige unter normalen Umständen nicht empfinden können. Sie sind in gewisser Weise dissoziiert und nähren sich vom voyeuristischen Blick. Es sind wohl arg gestörte, narzisstisch gestörte Menschen.
Es ist zu befürchten, dass immer mehr Schau-Lustige bei entsprechender Gelegenheit und vor allem bei einer Aussicht straffrei zu bleiben, die Schwelle überschreiten, selbst zu Akteuren werden, wie das in Hamburg aktuell zu erleben war. Immer mehr Menschen fragen nicht nach der Ethik ihres Handelns, sondern danach, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, erwischt zu werden und wie hoch die Strafen und wie unangenehm die Konsequenzen ausfallen könnten.