Täter-Opfer-Umkehr, oder die Instrumentalisierung der Rechtsprechung
Der Fall Sigrid M. wirft aufgrund des prominenten Opfers eines sexistischen Übergriffs via Facebook erneut ein öffentliches Schlaglicht auf eine schon seit langem wahrzunehmende und seit längerem immer wieder kritisierte Entwicklung: Durch eine nachhinkende Gesetzgebung und einem opulent ausgelebten Legalismus kommt es zu Urteilen, die zwar den Buchstaben des Gesetzes entsprechen (könnten), aber häufig in krassem Gegensatz zum sogenannten vernünftigen Rechtsempfinden stehen. Auch wenn das sogenannte „vernünftige Rechtsempfinden” (das wohlgemerkt etwas anderes ist als das „gesunde Rechtsempfinden” oder gar „Hausverstand”) selbst kritisch zu sehen ist, sollte es doch in Betracht gezogen werden.
Jedenfalls gibt es im Fall Maurer mehrfachen Handlungsbedarf.
Handlungsbedarf 1
Sigird M. erhält via Facebook eine vulgäre, sexistische Private Nachricht, die von einem Facebook Account stammt, der einem Betreiber eines Craft Beer Geschäftes in der Wiener Josefstadt gehört. Es zeigte sich, dass bei der derzeitigen Rechtslage gegen diese sexistische Herabwürdigung keine Rechtsmittel bestehen, um sich wirksam dagegen zu wehren. Der Gesetzgeber erkennt keinen Handlungsbedarf, solange die Herabwürdigung nicht zumindest von drei weiteren Personen wahrgenommen wurde, auch dann nicht, wenn diese Herabwürdigung eindeutig nachgewiesen werden kann.
Das kommt einem Persilschein, also einem Freibrief gleich, der es jedem und jeder erlaubt, selbst schriftlich andere Personen zu beleidigen und zu diffamieren, wenn man es nur schlau genug anstellt.
Es stellt sich daher die Frage, warum ein nachgewiesener Tatbestand der Herabwürdigung und Beleidigung für eine Klage nicht ebenso ausreichend ist, wie beispielsweise eine verbale Beleidigung, die von drei weiteren Personen bezeugt wird.
Es ist höchst an der Zeit, dass der Gesetzgeber der gegenwärtiger Kommunikationskultur und dem veränderten Medienverhalten Rechnung trägt. Ansonsten bleibt für Sexisten und pöbelnde Misanthropen oder bei Nachbarschaftsstreitigkeiten usf. Tür und Tor geöffnet.
Handlungsbedarf 2
Sigrid M. setzt sich zur Wehr und veröffentlicht die sexistische Nachricht unter Namensnennung des Besitzers jenes Facebook Accounts und des Lokals. Sie will auf diesen sexuellen Übergriff aufmerksam machen, auch um sich aus der wehrlosen Opferrolle zu befreien.
Der Betreiber des Bier Lokals setzt sich zur Wehr und behauptet, dass er nicht der Verfasser dieser Nachricht sei und daher zu unrecht beschuldigt werde. Der Computer stehe im Lokal, sei zugänglich und so hätte jeder Gast die Nachricht verfassen können. Er ist so dreist und versucht aus dieser Situation Kapital zu schlagen. Er klagt wegen übler Nachrede und Geschäftsschädigung und hofft laut Medienberichten auf 60Tausend Euro Geldregen.
Dabei stellt sich die Frage, ob es nicht zur Sorgfaltspflicht gehört, den Zugang zum Computer, solange dieser nicht nachgewiesenermaßen als öffentlich zugänglicher Computer ausgewiesen ist, insbesondere zu persönlichen Social Media Accounts, vor fremder und unbefugter Benutzung zu schützen. Sollte der Besitzer des Computers und des Facebook Accounts jemandem den Zugriff eingeräumt haben, dann müsste er diesen auch benennen können. Sofern das nicht geschieht oder möglich ist, sollte der Besitzer selbst geradestehen müssen. – Das Prinzip ist nicht neu. Der Fahrzeughalter eines Fahrzeugs, das bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung geblitzt wurde, haftet, es sei denn, er kann glaubhaft machen, jemand anderer, der das auch eingesteht, sei damit gefahren. Dieses Prinzip hatte sich viele Jahre bewährt. Warum kann das nicht auch in solchen, vergleichbaren Fällen angewandt werden. Geschieht das nicht, können Trolle, Pöbler, Sexualtäter und Kriminelle den Rechtsstaat leichtens an der Nase herumführen. Vielmehr noch, sie können, wie der Fall Sigrid M. aufzeigt, die gegenwärtige Rechtsprechung dazu nutzen, Recht und Gesetz zu instrumentalisieren und daran auch noch verdienen.
Handlungsbedarf 3
Sigrid M. wird im erstinstanzlichen Verfahren schuldig gesprochen, wird zu 3T EUR Strafe und 4TEUR Zahlung an den Kläger verurteilt. Soweit aus der umfangreichen Medienberichterstattung zu entnehmen ist, begründet das Gericht die Entscheidung damit, dass es Sigrid M. nicht gelungen sei, zu beweisen, dass der Kläger tatsächlich Autor der sexistischen Nachricht sei. Nachdem dieser Nachweis fehle, sei dem Kläger Recht zu geben.
Nun meint das Gericht, dass Sigrid M. sich nicht vergewissert habe, dass der Kläger auch der Autor sei, bevor sie ihn öffentlich als solchen bezichtigte. Es fehlte auch an journalistischer Sorgfalt, um eine solche Tatsachenbehauptung belegen zu können. Das mag legalistisch völlig korrekt und nachvollziehbar sei, es geht jedoch an der Realität völlig vorbei. Zunächst hätte das Opfer des sexuellen Übergriffs den vermeintlichen Täter, d.h. den Besitzer des Facebook Accounts, fragen müssen, ob er tatsächlich der Autor der Nachricht sei. Abgesehen davon, dass das unzumutbar ist, wäre auch nicht zu erwarten, dass die betroffene Person das auch eingesteht. Häme und Verspottung kämen zum sexuellen Übergriff noch hinzu. Weiters stellt sich die Frage, ob jemandem, der kein Journalist ist und damit auch nicht vertraut ist mit journalistischen Methoden und dem auch das Instrumentarium nicht zur Verfügung steht, Vernachlässigung journalistischer Sorgfalt vorgehalten werden kann. Auf Seiten des Opfers wird etwas vorausgesetzt, was auf Seiten des Täters nicht eingefordert und vorausgesetzt wird: Sorgfalt im Handeln.
In Österreich gibt es unter Österreichern rund 12 Prozent funktionale Analphabeten, also Menschen, die selbst ein Kinoprogramm kaum sinnerfassend lesen und verstehen können. Wenn nun jemand aus dieser Gruppe Opfer eines vergleichbaren sexuellen Übergriffs würde, käme es einer Verhöhnung gleich, diesem Opfer vorzuhalten, es fehlte an journalistischer Sorgfalt in der Prüfung, ob die beschuldigte Person auch tatsächlich zurecht beschuldigt werden könne. Das würde bedeuten, dass die weniger Vifen in unserem Rechtsstaat sehr schnell zu den ausgemachten Verlierern zählen könnten.
Handlungsbedarf 4
Der Richter erklärt laut Medienbericht der DIE PRESSE vom 9.10.2018: Ich bin überzeugt, dass der Kläger lügt.
Das ist für alle, die nicht im Gedankengebäude des Legalismus leben, schwer nachzuvollziehen. Da ist ein Richter überzeugt, dass der Kläger lügt, kann aber im konkreten Fall wegen einer offenbar unzureichenden Rechtslage nicht so handeln, wie man das erwarten würde. Warum ist es nicht möglich, den Kläger zumindest mit der Beweispflicht zu konfrontieren, dass nicht er es war, der auf seinem persönlichen Computer in seinem persönlichen Facebook Account in seiner Art der Vernachlässigung von Rechtschreibung und Grammatik diese Nachricht verfasste?
Das läuft einem vernünftigen Rechtsempfinden zuwider und zeigt wie schnell schlaue Leute das System missbrauchen können. Es ist Eile geboten, die entsprechenden Gesetze anzupassen und die Rechtsprechung schnell nachzuziehen, um Trittbrettfahrern den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Handlungsbedarf 5
Sigid M. sei Medieninhaberin, weil sie Ihre Äußerung als Tweet in ihrem Twitter veröffentlichte. Daraus leite sich die schon benannte Forderung nach journalistischer Sorgfalt ab, die jedem Medieninhaber zugemutet werde. Wie bereits erwähnt ist das bei 12 Prozent österreichischer funktionaler Analphabeten, die ebenso auf Sozialen Medien unterwegs sind wie andere auch, eine kühne Forderung. Die Zahl derer, die wissen, dass sie nach aktueller Rechtsprechung offenbar Multi-Medieninhaber sind, nur weil sie auf Facebook, Twitter, WhatsApp, Instagram etc. pp. jeweils einen Account besitzen und diesen fallweise nutzen, dürfte im niedrigen Promillebereich liegen. Es ist ja auch niemand deswegen schon Inhaber eines Kommunikationsmediums, nur weil er ein Telefon besitzt und das nicht nur für Gespräche im Familien- und Freundeskreis nutzt, sondern darüber sogar an Webkonferenzen teilnehmen kann. Bis auf ohnehin einschlägig informierte Nutzer dürfte niemand auch nur eine blasse Ahnung davon haben, welche rechtlichen Verpflichtungen sich für einen Medieninhaber auftun. Die Feststellung, dass jemand wegen nur Nutzung eines Twitter Account Medieninhaber ist, scheint doch mehr als überschießend und verdankt sich wohl ebenfalls einer nicht den veränderten Kommunikationsverhalten nachgezogenen Gesetzessituation.
Wenn die Rechtsprechung und der dahinter stehende politische Wille des Gesetzgebers allerdings darauf abzielen, die wenig beherrschbare Dynamik und Virulenz von Menschen im freien Meinungsaustausch zu erschweren und damit zu behindern, dann wäre das Festhalten daran, dass wir alle mehr oder weniger Medieninhaber sind und an das Mediengesetz gebunden sind, ein sicherlich wirksamer Weg. Wir wären dann quasi im öffentlichen Raum des Internets nicht mehr als Privatpersonen, sondern quasi als Unternehmer und Unternehmerinnen unterwegs. Das aber würde meinem demokratischen Rechtsempfinden deutlich widersprechen.
Es gibt großen Handlungsbedarf.