Das soziale Web - mehr Dorf als Stadt?
Manchmal habe ich den Eindruck, dass die global vernetzte Welt zunehmend dörfliche Facetten aufweist.
In kleinen Dörfern gibt es sehr wenig bis keine Anonymität. Da weiß jeder über jeden etwas - oder glaubt etwas zu wissen - und trascht. Da weiß man noch, was der Großvater für einer war und weshalb die Enkelin nicht anders geworden ist. Hier wird gemutmaßt, verdächtigt, gelobt und verdonnert. Wer mit wem welches Verhältnis hat, welcher Seitensprung zu häuslichen Auseinandersetzungen führte, welche Frau ihren Mann schlägt und umgekehrt, wer krank oder süchtig ist, all das weiß man in einem Dorf nicht nur, sondern es wird auch öffentlich an Biertischen, beim Einkaufen und allen möglichen anderen Gelegenheiten ausgebreitet und bei traditionellen Anlässen sogar öffentlich besungen.
Nicht selten wird getratscht, um des Tratsches willen. Gefürchtet sind die Zeiten, wo kein Tratsch das Ortsgespräch beherrscht, kein Gerücht kursiert. Dann besteht die Gefahr, dass jeder ein nächstes Opfer werden könnte. Still halten ist dann angesagt. Ein Dorf hält den Atem an.
Nicht immer gelingt es, Gerüchte aufzulösen oder sich aus dörflichen Verstrickungen zu befreien. Da unterscheidet sich das Gedächtnis eines Dorfes nicht wesentlich vom Internet. Jeder, der etwas anders ist, oder auffällig, fremd oder auch nur den Neid anderer auf sich zieht, wird zum Gespräch, treffender: kommt ins Gerede, das eben oftmals zum Ausgang für Gerüchte wird. Deshalb hat, wer z.B. schwul oder lesbisch war, das für sich behalten und ist dann in die Stadt gezogen.
Es gibt Anzeichen, dass sich das Internet und insbesondere Soziale Netze in diese Richtung entwickeln. Die Beschreibung des Internets als “globales Dorf” wird immer zutreffender. Dabei wäre es viel interessanter und spannender, wenn das Internet urbane Qualitäten annähme. Das ist es, was ich in sozialen Netzwerken am allermeisten vermisse - so etwas wie urbane Qualitäten.