Flipped Classroom
Gar so einfach, wie es das Bild vermuten lässt, ist das Modell des ‚Flipped Classroom’, auch ‚Inverted Classroom’ genannt, doch nicht — auch wenn dabei die eingefahrene bisherige Praxis der Lehre in gewisser Weise auf den Kopf gestellt wird.
Inhalte nicht ohne Blick auf Vermittlung entwickeln
Die Zeit in der universitäre Lehre vorherrschend Vorlesung im wörtlichen Sinne war, liegt noch nicht lange zurück und mancherorts ist man dabei sogar geblieben: Professoren lasen, zumeist wörtlich aus Ihrem Skript 50 Minuten lang vor. In der Regel gab es keine autorisierten Skripten, sondern Mitschriften von Studierenden, die von der Fachschaft zusammengeführt und überarbeitet wurden. So wurde weitgehend sichergestellt, dass die Studierenden die Vorlesungen besuchten.
Warum auch sollten Studierende in Vorlesung kommen, um dort etwas zu hören, was als aufbereitetes Skript, als Video- oder Podcast zugänglich ist und ebenso vermittelt werden kann.
Wenn es darum geht, Informationen zu liefern und die Grundlagen zur Wissensentwicklung, braucht es IMHO in der überwiegenden Zahl der Fälle keine Präsenzveranstaltungen. Diese Inhalte können Studierende anhand didaktisch gut aufbereiteter und bereitgestellter Medien von diesen selbst erarbeiten.
Viel wichtiger scheint es mir, sich in den Präsenzveranstaltungen über die erarbeiteten Inhalte auszutauschen, Fragen zu besprechen und zu klären, Aufgaben zu lösen und Anwendungensszenarien zu bearbeiten und zu diskutieren. Nach meiner bisherigen Erfahrung kann so nicht nur fachliches Wissen vermittelt werden, sondern effektiv verankert werden. Denn die Merkfähigkeit von herkömmlichen Vorlesungen ist eher gering und das „Kampflernen” vor Klausuren wenig effektiv, auch wenn dabei womöglich gute Zensuren herauskommen. In vielen Fällen ist die Behaltezeit solchen Inputs sehr knapp bemessen.
Hoher Aufwand für Lehrende und Studierende
Nicht verschwiegen werden darf, dass dieses „Flipped Classroom" Modell sowohl den Lehrenden als auch den Lernenden einiges abverlangt. Als Lehrender reicht es nicht aus, die PowerPoint Folien zur Verfügung zu stellen und auf Literatur zu verweisen. Das würde zu kurz greifen. Die Lehrmaterialien, die zur Verfügung gestellt werden, sollten didaktisch darauf abgestimmt sein, dass Studierende die Inhalte eigenständig auch angemessen erarbeiten können. Es genügt auch nicht, Lehrveranstaltungen aufzuzeichnen und die Videos unbearbeitet bereitzustellen - was leider gar nicht so selten passiert.
Meine Erfahrungen zum erhöhten Aufwand bei Lehrenden
In meinem Fall stellte ich eine Reihen von Tutorials zusammen, viele, die ich selbst erstellte und aufbereitete, dann aber auch Tutorials, die bereits im Internet zur Verfügung standen und sich sehr gut eigneten. Zeigte sich, dass es Lücken in der Bereitstellung der Information gab, bzw. Studierende zusätzliche Unterstützung benötigten, habe ich entweder Zusatztexte eingestellt oder weitere Videos produziert. Zusammengehörige Inhalte wurden als Artefakte in so genannten Ansichten auf einer e-Portfolio Plattform (Mahara) angelegt und diese in einer Step by Step Handlungsempfehlung erschlossen.
Um das leisten zu können braucht es ein gewisses Maß an Medienkompetenz und ausreichendes didaktisches Wissen, um einerseits erkennen zu können, welche Medien tatsächlich hilfreich sind und um andererseits entscheiden zu können, über welche Kanäle und Medien Inhalte effektiv aufbereitet werden können. Es braucht Wissen um die technologischen Herausforderungen, wobei das ‚Inverted Classroom Model’ keinesfalls ausschließlich aus dieser Perspektive betrachtet werden sollte.Damit Lehrende sich bei der Medienwahl nicht überfordern, sollten sie sich ausreichend damit auskennen, um Realisierungsmöglichkeiten und den dazu erforderlichen Aufwand abschätzen zu können - selbst dann, wenn sie bspw. das Video nicht selbst produzieren müssen.
Mit der Kenntnis von und Erfahrung im Umgang mit Medien ist es aber häufig nicht so weit her. Für einen großen Teil Lehrender - und das bezieht sich nicht nur auf die älteren darunter - sind das neue Herausforderungen. Hier braucht es entsprechende Fortbildungsangebote und begleitende Services zur Unterstützung.
Insbesondere bei nebenberuflich tätigen Lektoren stellt dieser erhöhte Zeitaufwand eine besondere Herausforderung dar. Für eine einmal zu haltenden Lehrveranstaltung ist der Aufwand für die Aufbereitung im Sinne eines ‚Flipped Classroom Model’ unverhältnismäßig.
Meine Beobachtungen zum erhöhten Aufwand bei Studierenden
Die Verschulung des Hochschulstudiums und mangelnde Gestaltungsfreiheit als Folge hoher curricularer Dichte (Bernstorff, 2014) zwingt Studierende zur Aufwandsoptimierung, häufiger jedoch zu Aufwandsminimierung – insbesondere berufsbegleitend Studierende.
Wird der curricular vorgegebene Lernaufwand realisiert, so bedeutet dies ohne Berücksichtigung von Fahr- und Stehzeiten im Bachelorstudium während des Semesters einen durchschnittlichen wöchentlichen Aufwand von 40 Stunden. (Metzger & Schulmeister, 2010) Berufsbegleitend Studierende sehen sich daher mehrheitlich mit einer Wochenarbeitslast von 80 Stunden konfrontiert. Gerade sie versuchen den Workload im Studium außerhalb der Präsenzzeiten zu minimieren, d.h. auf Klausurvorbereitungen und anteilige Projektarbeiten zu beschränken. Nur so ist für viele das Studium neben Beruf und oftmals Familie überhaupt leistbar.
Entsprechend stellt der Arbeitsaufwand, der sich in der Vorbereitungs- bzw. Arbeitsphase beim „Inverted Classroom Model“ ergibt, eine große, für viele kaum bewältigbare Herausforderung dar. Unter diesen Voraussetzungen führen mehr als eine oder zwei „Inverted Classroom“ Lehrveranstaltungen im Semester zu einer nicht mehr kompensierbaren Überbeanspruchung.
Obwohl anzunehmen wäre, dass bei Vollzeitstudierenden diese Problematik nicht im selben Maß gegeben ist, waren es zumeist sie, die über zu hohe Workload und unnötige Akkommodationsaufwände klagten. Sie forderten im Sinne einer optimierten Lernökonomie, dass sich Lehrveranstaltungen in ihrer Didaktik an den vorhandenen Lernroutinen der Studierenden orientieren sollten, um zusätzlichen Aufwand zu vermeiden. Wobei, wie schon erwähnt, diese Lernroutinen i.d.R. nicht unbedingt effektiv sind.
Erforderliche Administration und Organisation
Neben der sozio-kulturellen, pädagogisch-didaktischen und technischen Dimension sind ebenso die administrativ-organisatorische und die ökonomische Ebene zu berücksichtigen. (Mürner, Polexe, & Tschopp, 2015; Seufert & Euler, 2003) Damit die Akkommodationsaufwände seitens der Studierenden und die Aufwände seitens der Lehrenden verhältnismäßig bleiben, braucht es zumindest eine studiengangsbezogene strategische Gestaltung der Rahmenbedingungen. Besser noch wäre eine Implementierung des „Inverted Classroom Model“ in die Hochschularchitektur, wie das an manchen Hochschulen und Universitäten bereits geschehen ist. (Freisleben-Teutscher & Gruber, 2015).
Eine unterstützende Infrastruktur, sowohl was die technischen als auch personellen Ressourcen anbelangt, ist für eine erfolgreiche Implementierung eines „Inverted Classroom Model“ ebenfalls erforderlich.
Fazit
Eine punktuelle, isolierte Einführung des „Inverted Classroom Model“ für eine bzw. einzelne Lehrveranstaltungen scheint imho nicht zielführend. Dem zwar erreichten höheren Lernerfolg stehen unverhältnismäßig hohe Aufwände gegenüber.
Ich selbst habe mich als nebenberuflich Lehrender nach einigen Jahren intensiver Arbeit damit inzwischen für ein „Inverted Classroom Light“ entschieden, also für eine Mischform aus dem alltagspragmatisch bewährten, aufwandsreduzierten Modell und „Inverted Classroom Model“ in einzelnen Phasen innerhalb der Lehrveranstaltungen. Die Pragmatik fordert Tribute.
Bernstorff, F. (2014). Der entfesselte Workload. Freiräume in modularisierten Studiengängen. Zeitschrift für Hochschulentwicklung, 9(2). Abgerufen von http://www.zfhe.at/index.php/zfhe/article/view/657
Euler, D., & Seufert, S. (2005). Change Management in der Hochschullehre: Die nachhaltige Implementierung von e-Learning-Innovationen. Zeitschrift für Hochschulentwicklung.
Fischer, H. (2007). Der Change Management-Methodenbaukasten: Konzeptionelle Überlegungen zur Überwindung von Nutzungsbarrieren beim E-Learning. In Virtuelle Organisation und Neue Medien 2007: Workshop GeNeMe 2007 - Gemeinschaften in Neuen Medien; TU Dresden, 01./02.10.2007 (S. 373–385). TUDpress, Verl. der Wiss. Abgerufen von http://www.qucosa.de/recherche/frontdoor/?tx_slubopus4frontend[id]=14089
Freisleben-Teutscher, C. F., & Gruber, W. (2015). Kritische Erfolgsfaktoren der Implementierung des Inverted Classroom Models am Beispiel der FH St. Pölten. In Neue Technologien – Kollaboration – Personalisierung. Beiträge zum 3. Tag der Lehre an der FH St. Pölten am 16. Oktober 2014 (S. 55–61). St. Pölten.
Kyndt, E., Dochy, F., Struyven, K., & Cascallar, E. (2010). The perception of workload and task complexity and its influence on students’ approaches to learning: a study in higher education. European Journal of Psychology of Education, 26(3), 393–415.
Lewin, K. (1947). Frontiers in Group Dynamics: Concept, Method and Reality in Social Science; Social Equilibria and Social Change. Human Relations, 1(1), 5–41.
Metzger, C., & Schulmeister, R. (2010). Zeitlast. Lehrzeit und Lernzeit: Studierbarkeit der BA-/BSc und MA-/MSc-Studiengänge als Adaption von Lehrorganisation und Zeitmanagement unter Berücksichtigung von Fächerkultur und neuen Technologien. Abgerufen von http://www.bildungsserver.de/db/mlesen.html?Id=45064
Mürner, B., Polexe, L., & Tschopp, D. (2015). Es funktioniert doch - Akzeptanz und Hürden beim Blended Learning. Zeitschrift für Hochschulentwicklung, 10(2). Abgerufen von http://www.zfhe.at/index.php/zfhe/article/view/813
Seufert, S., & Euler, D. (2003). Nachhaltigkeit von eLearning-Innovationen. St. Gallen: Universität.