Prüfungen und Examen an Hochschulen und woran sie kranken
Vor Prüfungskommissionen ist es wie vor Gericht oder auf hoher See — man ist letztlich in Gottes Hand und der Ausgang ist nicht gewiss vorhersagbar. Bei manchen Prüfungskommissionen an manchen Studiengängen und Hochschulen trifft das mehr zu, bei anderen weniger. Transparenz sucht man häufig vergeblich.
FAZIT:
So vielfältig die Studiengänge in der österreichischen Hochschullandschaft sind, so unterschiedlich ist die Prüfungspraxis, insbesondere bei abschließenden Examina. Diese Praxis wurde bislang weder einer quantitativen noch einer umfassenden qualitativen Evaluation unterworfen. Es ist derzeit wohl zutreffend, von der Prüfungspraxis eher im Sinne von Hausgebrauch zu sprechen als von vergleichbaren und angemessenen Leistungsbeurteilungen, da sich die Prüfungspraxis präsumtiv weder am aktuellen Wissensstand in Pädagogik noch in Didaktik orientiert, sondern willkürlich an der jeweiligen Studiengangskultur und das heißt auch je nach handelnden Personen gestrickt ist.
Handlungsbedarf besteht beim Modus der Zusammenstellung von Prüfungskommissionen insbesondere bezüglich einer geschlechtergerechten Ausgewogenheit, hinsichtlich der Erfordernis promovierter Prüfer*innen und hinsichtlich des Verhältnisses von haupt- gegenüber nebenberuflich Lehrender.
Handlungsbedarf besteht bei der Prüfungspragmatik. Prüfungsfragen haben sich auf die im Rahmen der jeweiligen Curricla vermittelten Inhalte zu beziehen, nicht auf spontane Einfälle oder Interessensschwerpunkte einzelner Prüfer*innen. Dem Prinzip der Nachvollziehbarkeit wird ein Protokoll nur bedingt gerecht. Es wäre erforderlich, dass Prüfungsfragen samt möglicher Antworten vor den Prüfungen schriftlich formuliert und nach Zufallsauswahl Studierenden vorgelegt werden. Die Beurteilung braucht nachvollziehbare, auf die Fragen abgestimmte und je nach Erfüllungsgrad differenzierte Scorings, nicht gefühlte und damit willkürliche persönliche Einschätzungen seitens der Prüfer*innen.
Handlungsbedarf besteht bei der Haltung der Prüfenden. Prüfungen und Examina sind kein Selbstzweck und dienen weder der Belohnung noch der Demütigung von Studierenden. Examina sind nicht Ort und Zeit zur Selbstprofilierung der Prüfenden und für Prestigerivalitäten oder Selbstgefälligkeiten. Die Prüfungssituation sollte nicht mit einem Herrschaftsraum verwechselt werden.
Handlungsbedarf besteht zudem bei der Prüfungskultur. Examen auf einen „recall of facts” zu reduzieren entspricht nicht wirklich einem akademischen Bildungsverständnis, auch wenn sich vielfach Prüfungsfragen genau darin erschöpfen. Faktenwissen sollte in Klausuren bereits geprüft worden sein. Examen sollten deutlich darüber hinaus gehen und nach Verständnis und Kompetenz fragen.
Eine vergleichende quantitative und qualitative Evaluation der Prüfungspraxis an österreichischen Hochschulen ist dringend erforderlich.
Die Zusammenstellung der Prüfungskommission
Welche Prüfer*innen in welcher Prüfungskommission sitzen ist häufig eine organisatorische Herausforderung, vor allem dort, wo mehrere Prüfungen parallel abgehalten werden und es Engpässe bei Prüfer*innen gibt. Ob Prüfer*innen tatsächlich über den gelieferten Stoff Bescheid wissen oder nach etwas fragen, wovon sie glauben, dass es vermittelt worden sein könnte, wird im Vorfeld eher nicht abgeklärt. So kommt es vor, dass Lehrende neben ihrem Fach auch andere Fächer prüfen müssen, für die sie keine spezielle Expertise besitzen und von welchen sie die Curricula kaum kennen, geschweige denn eine Ahnung davon haben, welches Wissen in welcher Tiefe vermittelt wurde und welche Kompetenzen die Studierenden günstigstenfalls darin erwarben.
In vielen Studiengängen dominieren Männer in Prüfungskommissionen
Während meiner zwölfjährigen Tätigkeit als Lektor wurde ich wiederholt in Prüfungskommissionen eingeladen. Dort befand ich mich ausschließlich in männlicher Gesellschaft. Zugegeben, es ist ein Studiengang zu Wirtschaft und Management. Dennoch. Nachdem das Geschlechterverhältnis unter Studierenden teils von Frauen dominiert wird. wäre es sicherlich sinnvoll, bei der Besetzung der Prüfungskommissionen darauf zu achten, dass nicht nur Männer Prüflingen gegenüber sitzen. Damit könnte man Stereotypen, überkommene Rollenvorstellungen und Klischees eher außen vor halten.
Nicht ganz unproblematisch wird es, wenn Prüfer glauben, sich gegenseitig beweisen zu müssen, dass sie besonders streng und kompetent sind etc. und das an Prüflingen exerzieren, um sich in Pose zu bringen. Da sind es besonders häufig jüngere Prüfer, die noch um ihre Anerkennung ringen, großteils nicht promoviert sind oder eben gerade dabei sind. Das Imponiergehabe von Prüfern ist schon einigen Studierenden zum Verhängnis geworden. Dieses Problem ist bei einer rein männlichen Zusammensetzung häufiger festzustellen.
Das Verhältnis von haupt- und nebenberuflich Lehrenden in Prüfungskommissionen
Insbesondere an Fachhochschulen ist das Verhältnis von Lektor*innen zu hauptberuflich Lehrenden bedenklich unverhältnismäßig. Wie im Beitrag Lehre an Fachhochschulen — Fehlentwicklungen
erwähnt, empfiehlt der Deutschen Wissenschaftsrat einen Schlüssel von 80 Prozent hauptamtlich zu 20 Prozent nebenberuflich Lehrenden. Dieses Verhältnis ist bei weitem nicht gegeben. Tatsächlich sind die Verhältnisse eher verkehrt. In Prüfungskommissionen ist diese Unverhältnismäßigkeit zwar nicht so ausgeprägt, aber dennoch ist der Anteil Nebenberuflicher fallweise zu hoch, besonders dann, wenn es sich nicht um jene handelt, die als Lektor*innen den Prüfungsstoff vermittelten.
Der Anteil promovierter Lehrender in Prüfungskommissionen
Es kommt gar nicht so selten vor, dass bei Prüfungen nicht promovierte Prüfer*innen der Prüfungskommission angehören. Das betrifft nebenberuflich Lehrende wie auch Hauptamtliche. Es ist noch nachzuvollziehen, wenn in der Prüfungskommission jene Lehrenden vertreten sind, die die Studierenden in Prüfungsfächern unterrichtet haben, auch wenn diese nicht promoviert sind.
Es zeigt sich immer wieder, dass Prüfer*innen, die noch am Anfang ihrer akademischen Karriere stehen oder an der Promotion gescheitert sind, zu Unverhältnismäßigkeiten bei Leistungsanforderungen neigen, zu Verzerrungen und zu Selbstdarstellungen — zum Leidwesen und Nachteil der zu prüfenden Studierenden. Ausnahmen bestätigen natürlich immer auch die Regel.
Die Prüfung verkommt leicht zum Selbstzweck und zur Darstellung von „Herrschaftsverhältnissen” und Eitelkeiten. Prüfer*innen sollten daher nicht nur fachliche, sondern auch soziale Kompetenzen mitbringen, was leider nicht immer der Fall ist.
Prüfungsroulette oder faire Prüfungsbedingungen
Fast möchte man von Hausgebrauch sprechen, so sehr unterscheiden sich die Prüfungsmodalitäten von Studiengang zu Studiengang von Hochschule zu Hochschule. Und dieser Hausgebrauch unterscheidet sich teils enorm.
Examen als Abrechnung durch Scharfrichter
In einigen Fällen wird von Studierenden beispielsweise im Rahmen von Bachelor Prüfungen erwartet, dass sie sechs Semester Inhalte, Informationen und Wissen im Umfang von 180 ECTS abrufbar vorhalten müssen, detailliert. Nicht nur Foliensätze, sondern umfangreiche Literatur und selbst Inhalte, die letztlich nicht oder unzureichend vermittelt wurden. Dabei wurde der Stoff in jeweiligen Klausuren bereits geprüft und in vielen Fällen in weiteren sogenannten Modulklausuren nochmals geprüft. Bei einer Prüfungsdauer von 15 bis 20 Minuten in welcher kreuz und quer auf der Suche nach Wissenslücken gefragt wird, ist es sehr wahrscheinlich, diese zu finden. Und dann kommt es eben darauf an. So können ein und dieselben Prüfer*innen einmal kulant bleiben und dort, wo sich Mängel zeigen nicht unangemessen nachbohren und ein anderes Mal nicht nur Finger, sondern das ganze Gewicht auf eine gefundene Schwachstelle legen, um Studierende abzufertigen. Sogenannte „Scharfrichter*innen” scheinen einen besonderen Ehrgeiz darin zu entwickeln, Studierenden zu vermitteln, sie seien unqualifiziert oder zumindest unzureichend vorbereitet.
Erschwerend kommt in solchen Fällen sehr häufig dazu, dass die Fragen mehr oder weniger spontan formuliert werden, oft auch assoziativ an Fragen anderer Prüfer*innen anknüpfend. Entsprechend gibt es für diese Fragen auch keine Musterantworten und keine Gewichtungen. Es bleibt dem situativen Eindruck überlassen, ob eine Frage nicht, teilweise oder gänzlich beantwortet wurde, ob die Antwort tatsächlich auf Basis des vermittelten Stoffes so ausfallen konnte, wie erwartet usf. Die Fragen orientieren sich vielfach nicht am Curriculum, nicht am gelieferten und geleisteten Lehrstoff, sondern an der Dynamik des Fragestellens im Rahmen dessen, was die jeweiligen Prüfer*innen zu einem Fach erwarten. So kann man gegebenenfalls zwischen bestanden und in deutlichen Fällen nicht bestanden unterscheiden, aber eine nachvollziehbare Bewertung in vier Notengraden ist bei einer solchen Prüfungskultur nicht zu leisten.
Examen als pragmatische Studienbilanz
Ein realistischer und damit pragmatischer Blick auf die Studienrealität zeigt, dass die 180 ETC eines Bachelorstudium angefüllt sind mit Daten und Informationen und dass es nicht zielführend ist, diese Daten und Informationen wahllos und willkürlich abzufragen. Es besteht dabei die Einsicht, dass vieles davon nicht wirklich erfolgreich in Wissen und Kompetenz überführt werden konnte, was eben nicht nur an den Studierenden allein liegt, sondern auch an Lehrenden, einer Überfrachtung der Curricula und an fragwürdigen bildungspolitischen Perspektiven. Wenn Studierende Prüfungen nicht bestehen, so ist das nicht nur Versagen des Studierenden, zumindest in gleicher Weise auch das Versagen des Lehrenden und in vielen Fällen das der Prüfenden.
Diese Einsicht führt bei einigen Studiengängen dazu, den Stoffumfang bei Examen zu begrenzen, nachdem die Fächer ohnehin bereits geprüft wurden. Ich kenne Fälle, in welchen Studierende zwei, bzw. drei Schwerpunktfächer wählen können zu welchen Sie gefragt werden. In einigen Fällen wird aus Listen mit Mindestvorgaben (zB. eins aus fünf) ausgewählt, um beispielsweise in betriebswirtschaftlichen Managementstudiengängen sicherzustellen, dass jedenfalls Studierende unter Finanzen, Rechnungswesen, Controlling ein Prüfungsfach wählen müssen. An manchen Studiengängen werden dann Fragenkataloge je Prüfungsfach Studierenden zur Verfügung gestellt. In Examen werden dann ausschließlich Fragen aus diesen Katalogen ausgewählt. Für alle Fragen gibt es im Regelfall Musterantworten, oftmals zwar nur stichwortartig und nicht taxativ.
Haben sich Studierende gut vorbereitet, dann ist es eher unwahrscheinlich, dass jemand das Examen nicht besteht. Dazu gibt es ein Bekenntnis, nachdem es wenig Sinn macht, Studierende nach sechs Semestern erfolgreichen Studiums letztlich im Examen durchfallen zu lassen.
Bei solchen Modellen wird oftmals eingewendet, dass es hier zu einer Leistungs- und Anforderungsinflation käme und Studierende in das Erwerbsleben entlassen würden, ohne in jedem Fall über Basiskenntnisse zu verfügen. Dass manche Studienabgänger tatsächlich Probleme mit Basics haben, darauf hat zuletzt die OECD hingewiesen. Aber das ist nicht Schuld einer pragmatischen Examensgestaltung, sondern eines Versagens der Lehr- und Prüfungssituation in den vorangegangenen Semestern. Studiengänge mit einer pragmatischen Examenskultur fordern Studierende bereits ab dem ersten Semester entsprechend. Damit soll weitestgehend sichergestellt werden, dass nur jene Studierende, die sich darin bewährt haben, überhaupt bis ins sechste Semester und zum Examen gelangen.
Die Studienplatz orientierte Hochschulfinanzierung
Pointiert könnte man formulieren, dass das Interesse an Studierenden zumindest so lange gegeben ist, als sie zur Finanzierung von Studiengängen beitragen. Daher bekommt man statt des Begriffs ‚Studienplatzfinanzierung’ fallweise die wenig schöne Metapher ‚Kopfgeld’ zu hören.
Auch unqualifizierte Studierende tragen zur Finanzierung bei
Solange sich für einen Studiengang ausreichend qualifizierte Personen bewerben und eine Leistungsselektion bereits in den ersten beiden Semestern weniger oder nicht für den jeweiligen Studiengang ausreichend Qualifizierte ausschließt, lässt sich ein entsprechendes Leistungs- und Anspruchsniveau bis zu den Examina mit minimalen Durchfallquoten durchhalten. Anders verhält es sich, sofern sich nicht ausreichend viele qualifizierte Studienbewerber für einen Studiengang interessieren. Um die Finanzierung des Studiengangs und letztlich sein Bestehen nicht zu gefährden, werden in solchen Fällen auch weniger bis kaum qualifizierte Bewerber angenommen und als Studierende bis in höhere Semester geschleust.
Kulturwandel bei akademischer Bildung
Bildung als Kulturgut hat sich in den letzten Jahrzehnten immer stärker in Richtung Produkt entwickelt. Parallel dazu gewann der Bildungsmarkt an Bedeutung und Dynamik. Bildung im Verständnis einer Bildungskultur, die in der dt. Klassik einen Ausgang nahm und besonders durch Wilhelm von Humboldt geprägt wurde, wird von Ausbildung an Hochschulen zunehmend verdrängt. Die Verschulung von Bildung, wie wir sie aus Mittelschulen schon seit langem kennen, zieht sich in die Hochschulen. Es deutet einiges darauf hin, dass ein auf Reproduktion (im Sinne von recall of facts) konditionierter Bildungszugang, bestenfalls als Erklärungszugang einen Verstehenszugang zunehmend ablöst. Seit fast zwanzig Jahren wird wirkungslos auf das Phänomen einer Ökonomisierung von Bildung hingewiesen. Nicht zuletzt: In Zeiten eines digital shift bei Examen auf Reproduktion von Informationen (noch nicht einmal von Wissen) zu setzen, ist kontraproduktiv - auch für die Wirtschaft.
Zum Hintergrund des Beitrags
Im Austausch mit Kolleg*innen, die als Lektor*innen und Professor*innen auch an anderen Hochschulen und in anderen Bundesländern tätig sind, ergab sich das Thema. Es gibt Erfahrungsberichte von wenig über zwanzig Studiengängen. Verglichen mit den fast 3000 Studiengängen, die in Österreich angeboten werden, ist das keine Basis, auf der empirisch gestützte Ableitung zulässig wären. Dieser Beitrag ist daher ein Nachdenken über eine Situation in der Hoffnung, dass Bildungswissenschaftler hier ein Forschungsfeld entdecken, insbesondere weil diese Aufgabe erst einen Anfang markieren würde, zu einer Reform und einem Kulturwandel im Bereich Evaluierung von Wissen und Kompetenz in der Hochschulbildung.
Editionsgeschichte
Eingetragen von Dr. Conrad Lienhardt am 8.10.2019 in Bildungspolitik, Lehrveranstaltungen – Last touched: 10.02.2021 – Contents updated: 10.02.20211 Kommentar, 1 webmention
Webmention von: www.npo-consulting.net

Kommentar von: Solli

Es ist hervorragend ihr Text. Ich stimme ihnen voll zu, besonders die Bestallung der Prüfer durch Frauen. Habe gerade wieder erlebt , wie die Prüfer scheitern bei einer Verteidigung an der HU Berlin.
https://www.npo-consulting.net/blogs/lector.php/plagiate-ghostwriting-an-hochschulen
Plagiatsvorwürfe bei wissenschaftlichen Abschlussarbeiten werden immer häufiger erhoben. Die Problematik reicht aber weit darüber hinaus und zeigt systemische Schwächen im Hochschulbetrieb.