Hintergründe zum Hype um Social Media — t1
Die Annahme, das Phänomen Social Media verdanke sich allein einem technischen Fortschritt, ist sehr verkürzt und so nicht zutreffend. Deutlich unterschätzt sind Entwicklungen, die die Soziologie u.a. mit den Begriffen „Wertewandel” und „Erlebnisgesellschaft” charakterisiert. Im folgenden versuche ich diese Hintergründe in mehreren Beiträgen zu beleuchten.
Wertewandel
Soziologen stellten seit Anfang der 60er Jahre eine Abkehr von materiellen zu postmateriellen Werten fest. Die Forschungen der 80er und 90er Jahren formulierten daraus das Paradigma des „Wertewandel“. (Gabriel A. Almond, 1963; Inglehart, 1977; Klages, 1984; Elinor Scarbrough, 1995; Georg W. Oesterdickhoff, 2001; Weßels, 2015) Unter „Werte“ versteht die Soziologie „allgemeine und grundlegende Orientierungsstandards, die für das Denken, Reden und Handeln auf individueller und auf kollektiver Ebene Vorgaben machen und dabei explizit artikuliert oder implizit angenommen werden”(Endruweit u. a., 2014).
Die Grundannahme beruht darauf, dass mit fortschreitendem materiellem Wohlstand und damit verbunden einem gestiegenen existentiellen Sicherheitsempfinden weiterer materieller Zugewinn nicht mehr in dem Maße im Vordergrund steht, sondern vielmehr soziale Individualisierungsprozesse und individuelle Autonomiegewinnung. Selbst-Expression und Emanzipation gewinnen daher an Bedeutung, Werthaltungen, die in diesem Zusammenhang zu postmateriellen Werten gerechnet werden. (Vgl. Weßels, 2015: S. 762)
Maslow und die Individual- bzw. Selbstverwirklichungsbedürfnisse
Nicht ganz unähnlich der Maslowschen Bedürfnispyramide (1954), bildet in diesem Konzept die materielle Sicherung die Basis. Soziale Bedürfnisse, Individual- und Selbstverwirklichungsbedürfnisse werden erst dann relevant, nachdem die physiologischen Bedürfnisse und das Bedürfnis nach Sicherheit weitgehend gedeckt sind. Wer damit zu kämpfen hat, sein tägliches Leben zu organisieren und zu finanzieren, wer in der Angst lebt, dass eine defekte Gastherme oder Krankheit zum finanziellen Fiasko führen könnten und damit zur existentiellen Bedrohung, für den ist Selbstfindung und Selbstverwirklichung keine vorrangige Herausforderung.
Abraham Maslow unterscheidet in diesem Modell allerdings nicht zwischen Bedürfnissen und Werten. Inglehart, einer der prononciertesten Vertreter des Paradigmas Wertewandel, geht davon aus, dass je stärker der materielle Wohlstand zunimmt, d.h. je besser die Versorgungs- und Sicherheitsbedürfnisse befriedigt werden können, desto eher ist eine Orientierung hin zu post-materialisitischen Werten zu erwarten. (Inglehart, 1977, 1989)
In der Bundesrepublik Deutschland war nach der Zerstörung von Wirtschaft und Gesellschaft durch Nationalsozialismus und Krieg in Folge der Entschuldung (Londoner Schuldenabkommen, 1953), der Aufhebung des alliierten Besatzungsstatuts 1955 und einer Politik der Sozialen Marktwirtschaft (Müller-Armack, Ludwig Erhard) die Wirtschaft gut in Gang gekommen (Stichwort: Wiederaufbau). Nach einem schnellen Wachstum in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten verlangsamte sich zwar das Wirtschaftswachstum in den 70er Jahren, garantierte aber weiterhin allgemeinen Wohlstand.
Die abgestimmte Außen- und Sicherheitspolitik europäischer Länder im Rahmen der beginnenden europäischen Integration, die Westeuropäische Union, vor allem aber die Sicherheitsbündnisse mit den USA (Nordatlantikvertrag, NATO) gaben trotz kaltem Krieg und geteiltem Deutschland ausreichend Sicherheit, auch wenn die Intervention von Sowjettruppen in Ungarn (1956), die Kuba-Krise (1962), der Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei und Unterdrückung des sog. Prager Frühlings (1968) dieses Sicherheitsgefühl immer wieder erschütterten.
Eine vergleichbare Entwicklung nahm Österreich, mit Ausnahme der Bündnispolitik, da sich das Land 1955 zur Neutralität (Neutralitätsgesetz, Bundesverfassung) verpflichtete. Die Neutralität wurde als Element der Sicherheitspolitik verstanden.
In der ehemaligen DDR und ehemaligen sog. osteuropäischen Ländern des Warschauer Paktes und Jugoslawien, sowie in den sog. westeuropäischen Ländern, in welchen Demokratie erst spät zum Durchbruch kam (Griechenland (1973), Portugal (1974), Spanien (1975)) verlief diese Entwicklung anders.
Darauf ist Rücksicht zu nehmen, wenn es darum geht, das Modell des Wertewandels bezogen auf den Betrachtungszeitraum anzusetzen.
Anschaulich werden die Aspekte des Wertewandels bspw. an Phänomenen wie Hipster, Hippie und sog. 68er Bewegungen.
Der Verlust an Autoritätsorientierung
Mit dem Wertewandel einher ging ein Verlust an Autoritätsorientierung. Autoritäten wurden in Frage gestellt und mussten sich legitimieren. Aber auch dann waren Autoritäten nicht mehr zwangsläufig handlungsweisend. Denken Sie an die sog. Studentenrevolten („Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren“) oder die Anfänge der antiautoritären Erziehung usf.
Parallel dazu begann der Status des Experten, also einer Autorität auf einem gewissen Sach-, bzw. Fachgebiet zu schwinden. Der Umstand, dass Experten oder sonstige Autoritäten bspw. eine bestimmte Lebensgestaltung für angemessener hielten als andere Formen etc. wurde nicht mehr als verbindlich genommen.
Der Wunsch nach Selbstverwirklichung
Verdrängt wurden die Autoritäten und Experten durch den Wunsch nach Selbstverwirklichung. Es ging nicht mehr darum, eine gesellschaftlich vorgegebene Rolle auszufüllen, sondern sich selbst zu verwirklichen. Das alleine widersprach schon allen Massenansätzen – Massenprodukte, Massenwerbung etc. Mit der Selbstverwirklichung stieg das Bedürfnis gesellschaftlicher Differenzierung, nun nicht mehr über Einkommen, sondern über Lebensstile.
Das hatte abnehmende Sichtbarkeit und sinkende Bindungswirkung traditioneller Sozialzusammenhänge zur Folge, da innenorientierte Lebensauffassungen und Sinngebungen Außenorientierung zunehmend verdrängen. Der Bezugsrahmen eines gesellschaftlich geglückten Lebens fragmentierte sich in zahllose kleinere Bezugseinheiten, die in erster Linie durch Lifestyle charakterisiert sind.
Junge Milieus zeichnen sich zunehmend durch Kreativität, Selbstverwirklichung, Autonomie, Identität, Aktivierung und Animation aus. Es geht um das Projekt des selbstbestimmten Lebens. Damit veränderten sich zugleich die gesellschaftliche zur kommunikativen Konstruktion und entsprechend die Lebenswelten in kommunikative.
In der Fortsetzung: Auswirkungen der Wiedervereinigung Deutschlands, Zerfall der Sowjetunion, Expansion der EU und die großen Migrationsströme auf Wertehaltungen wie auch der Pluralisierung teilweise konkurrierender Wertevorstellungen.