Digitalisierung zu Lasten von Servicequalität
Digitalisierung — Ein weites Feld, gehandelt wie ein Heilsversprechen für eine Zukunft in Wohlstand, Gesundheit und intakter Umwelt. Zweifellos ist Digitalisierung ein bedeutendes Zukunftsthema, das es gilt, aktiv zu gestalten. Aber nicht alles, was als Digitalisierung firmiert ist zugleich ein Schritt in die richtige Richtung, denn Digitalisierung ist kein Wert an sich. Fehlentwicklungen bei der Digitalisierung und mangelhafte Digitalisierung können gerade auch im Bereich Kundenservice und bei Kundenorientierung fatale Folgen für Unternehmen zeitigen.
Bei vielen Kunden macht sich Ernüchterung breit, weil viele Unternehmen unter Digitalisierung vor allem digitale Automatisierung verstehen und darin vor allem eines sehen: Kostensenkungspotenziale. Eine agile Planrechnung lässt dabei häufig die tatsächlichen Bedürfnisse von Kunden außer Acht, mutet Kunden zu, sich neuen Serviceprozessen anzupassen, manchmal sogar sich diesen zu unterwerfen. In solchen Fällen scheint man unter Kunde ein abstraktes Konstrukt zu verstehen, weniger Menschen unterschiedlichen Alters und Herkunft, lässt außer acht, dass auch Menschen mit körperlichen, sozialen oder bildungsbezogenen Handicaps Kunden sind.
Ein Erfahrungsbericht mag das anschaulich machen.
Reisen mit der Bahn
Eine Bahnreise, zumal in Österreich, Deutschland und den Niederlanden ist normalerweise keine Herausforderung. Sie wird es erst an den Rändern oder jenseits eines Normalfalls, dann, wenn es zu Verspätungen kommt und ein erhöhter Informationsbedarf besteht. Solche Vorfälle häufen sich jedoch wegen der sehr engen Taktung im Zugverkehr und aufgrund hoher Überlastung. Digitale Automatisierung von Reiseauskünften und Push Aktualisierungen scheinen damit nicht wirklich zurande zu kommen. Das wäre auch kein Problem, hätte man nicht Drucksorten (Plakate mit Zuginformationen, Folder als Zugbegleiter etc.) eingespart und insbesondere geschultes Personal in Zügen und auf Bahnhöfen abgebaut und beim Telefonservice auf häufig unzureichend informiertes und mäßig geschultes Callcenter-Personal gesetzt.
Auf Internetseiten und Apps gab es zu meiner Zugverbindung noch 50 Minuten vor Abreise von Amsterdam Centraal keinen Hinweis auf mögliche Verspätungen. Doch als die Zugverbindung auf den Informationssystemen am Bahnhof angezeigt wurde, war dort zu lesen, dass dieser Zug „gecancelt” sei. Die wenigen Infopoints waren belagert. Als ich endlich Auskunft erhielt, hatte ich nur noch 5 Minuten Zeit, einen Regionalzug zu erreichen, der mich nach Utrecht bringen sollte, von wo ich dann in den ICE umsteigen könnte, den ich eigentlich in Amsterdam besteigen wollte.
Der QR Code am Ticket, das die ÖBB mir verkaufte, erwies sich bei den Zugangsschranken zu den Gleisen als ungültig und es gelang mir nur mit fremder Hilfe dennoch zum Bahnsteig zu kommen und in letzter Minute den Zug zu besteigen. Das war gut eine Viertelstunde vor der eigentlich geplanten Abfahrt. Hätte ich mich auf die App verlassen, wäre ich verlassen gewesen, d.h. ich hätte keine Möglichkeit mehr gehabt, den Anschluss-Nachtzug in von Düsseldorf nach Wien noch zu erreichen.
Zu allem Überfluss und Ärger erhielt ich um 18.40 per E-Mail eine absurde Benachrichtigung der ÖBB, dass der gebuchte Zug wie geplant um 18.40 von Amsterdam abfahre und um 20.46 Uhr fahrplanmäßig in Düsseldorf ankäme. Diese Nachricht erhielt ich noch zehnmal, jeweils ergänzt mit einem Hinweis auf die zunehmende Zugverspätung. Selbst als evident war, dass der ÖBB Nachtzug in Düsseldorf verpasst werden würde, fehlte jegliche Angabe dazu. Um 21.03 Uhr erhielt ich die letzte dieser sinnentleerten Benachrichtigung von der ÖBB. Welchen Wert haben solche automatisierten Nachrichten, wenn die ÖBB offenbar nicht in der Lage ist auf die aktuellen Zugdaten zuzugreifen und diese vollständig, effektiv und effizient zu verarbeiten und entsprechende Informationen an betroffene Kunden weiterzuleiten?

Der ICE, der mich von Utrecht nach Düsseldorf bringen sollte, kam mit 12 Minuten Verspätung. Fatal, denn für das Umsteigen in Düsseldorf waren fahrplanmäßig nur 8 Minuten vorgesehen. Die ÖBB App und Webseite bot keinerlei hilfreiche Informationen. Die Zug App zeigte nur die Verspätung an. In Offenhausen hatte der Zug bereits 60 Minuten Verspätung und noch immer gab es keine Hinweise, weder via App noch via Internet noch via Digitalanzeigen im Zug, wie sich die Verspätung auf die Anschlusszüge auswirken würde, ob die Anschlusszüge warten würden, zu Alternativen etc. Es war für die gesamte Fahrzeit im ICE kein Zugbegleiter oder Zugführer zu sehen. Es wurden nicht einmal Tickets geprüft. Einzig ein Angestellter des Bordrestaurants lief insgesamt dreimal in vier Stunden durch den Zug, um kühle Getränke unbeteiligt zu verkaufen. Auskünfte konnte er keine geben. Niemand im Zug wusste Bescheid, wie es weitergehen sollte.
Als ich mich bis zum Zugführer durchgefragt hatte, fand ich diesen und seinen Kollegen in einer Kabine mit einem Smartphone beschäftigt. Auf meine Frage, wie es sich mit dem Anschluss-Nachtzug verhalte, meinte er nur, dass er vor einer halben Stunde eine Anfrage an den Zug geschickt hätte, aber noch immer keine Antwort erhalten habe. Er könne also nicht sagen, ob der Zug warte, auch wenn insgesamt so um die 30 Personen davon betroffen seien. Auch andere Fahrgäste, die am Frankfurter Flughafen Flüge erreichen mussten, waren ohne jegliche Informationen darüber, wann der Zug an der Station Frankfurt Flughafen letztlich ankommen werde.
Die ÖBB bot keinerlei Möglichkeit, im Internet aktuelle Informationen zu dieser Verspätung abzurufen. Ein Anruf beim Kundenservice geriet zur Farce. Als ich mitteilte, dass ich den Nachtzug in Düsseldorf nicht erreichen würde, und schlimmstenfalls nachts auf einem Bahnhof in Deutschland hängen bleiben könnte, unterbrach mich die Servicemitarbeiterin und meinte lakonisch: Das sei ja in Deutschland, nicht in Österreich. Da müsse ich mich mit der Deutschen Bahn in Verbindung setzen. Als ich erklärte, dass ich die Reise bei der ÖBB gebucht hätte und damit die ÖBB mein Reiseveranstalter sei, entgegnete Frau K., dass das nichts zur Sache täte und beendete das Telefonat. (Um diese Zeit erhielt ich die letzte e-Mail von der ÖBB, mit der (Des-)Information, dass die Rückreise von Amsterdam ohne Verzögerung ab 18.40 Uhr angetreten werden könne.)
Wirklich Unruhe brach unter etlichen Reisenden aus, als auf der Infoseite zum Zug im Internet plötzlich die Nachricht erschien, dass einige Haltestellen nicht angefahren würden, um die Verspätung etwas aufzuholen. Es wurde aber nicht angegeben, um welche Haltepunkte es sich handelte. Dazu gabe es auch keine Hinweise auf dem Infoscreen, noch gab es Durchsagen. Da wusste meine Platznachbarin nicht, ob der Zug in Köln überhaupt halten würde. Alle waren mit ihren Smartphones zu Gange, suchten in Apps und im Internet, aber niemand fand Informationen, die irgendwie hilfreich gewesen wären. Erleichterung gab es für meine Sitznachbarin erst, als es unvermittelt hieß, dass man in den Hauptbahnhof Köln einfahre. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich immer noch nicht, ob ich den Nachtzug, den ich in Düsseldorf nicht mehr erreichte, in Frankfurt Flughafen erreichen würde. Letztlich gelang es. Der Nachtzug traf dort drei Minuten nach dem ICE ein.
Hier versagten sämtliche digitalen Servicekanäle. Das Zugpersonal blieb von 19.20 Uhr bis 23.47 völlig unsichtbar. Offenbar befanden sich außer den Zugreisenden nur zwei Zugführer, die ihre Kabine während der gesamten Fahrzeit nicht verlassen haben dürften, der Zugfahrer und das Personal des Bordrestaurants im ICE.
Editorischer Hinweis:
Eingetragen von Dr. Conrad Lienhardt am 16.10.2018 – Last touched: 18.02.2020 – Contents updated: 18.02.20203 Kommentare
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Kommentar von: Sabine

Und wie ging die Geschichte aus? Bin neugierig und hoffe auf auflösung und ein happy end ;-)
Kommentar von: jules

Viele Unternehmen sehen in Digitalisierung vor allem die Möglichkeit Kosten zu senken. Das sehe ich auch so. Aber dabei übersehen viele Unternehmen, dass sie das am Ende ganz schön teuer kommen kann - vor allem überall dort, wo wirklich soziale Kompetenz gefragt ist, die eben nicht durch Algorithmen optimiert werden kann, sondern nur durch gutes, gute bezahltes und laufend fortgebildetes Personal.
Kommentar von: Rolf Lund

Aus diesem Grund fliege ich - trotz Verspätungen und Flugausfällen ist das immer noch angenehmer und auch nicht viel teurer. Nachdem ich nicht in Linz, sondern in Wien wohne, käme ich nie auf die Idee, mit dem Zug nach Amsterdam zu fahren. Bahn fahren hat für mich den Reiz verloren. Nur innerhalb Österreichs ist es halt praktisch. Aber schon nach München fliege ich.