„Zu lange, das lese ich nicht” - Folgen für das Marketing
Immer häufiger stoße ich auf das Phänomen "too long, didn't read" ("tl;dr" oder auch "tldr"). Erst unlängst erstaunte mich die Rückmeldung eines Studierenden auf meine Bitte, ein Feedback zum Entwurf einer Marketing Microsite einer Kommilitonin zu geben. Er meinte, der zwölfzeilige Text sei ihm zu lange gewesen. Er würde das nicht lesen und könne zum Wording, bzw. Copywriting daher nichts sagen. Auf meine Nachfrage antwortete er, dass es wohl den meisten, zumindest seiner Generation so ginge und sie einfach nicht mehr bereit wären sich zutexten zu lassen. Kommunikation müsse über Bilder und Kurztexte erfolgen.
Mittlerweile gibt es Anwendungen und Apps wie bspw. "tldr Less words, please!" von plexinlp für Firefox, ein Addon, das Texte zusammenfassen und der Leserin automatisch erstellte Kurzfassungen anbieten kann.
Leseverhalten in Zeiten zunehmenden funktionalen Analphabetismus
Bekannt ist, dass das Leseverhalten beeinflusst wird vom Grad der formalen aber auch informellen Bildung, dem Elternhaus und der Inkulturation, der Schichtzugehörigkeit und Sozialisation, dem Geschlecht und dem Alter.
Doch so klar, wie es noch von einigen Jahrzehnten gewesen sein mag, lässt sich heute aufgrund dieser Merkmale nicht mehr schlüssig ein bestimmtes Leseverhalten unterstellen. Immerhin wächst das Segment der funktionalen Analphabeten selbst unter Akademikern und in Akademikerfamilien. Man geht davon aus, dass trotz Schulpflicht etwa 9 bis 16 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in den Ländern West- und Mitteleuropas nicht richtig lesen und schreiben können (Güntner, 2013). In Österreich wird die Zahl funktionaler Analphabeten sogar auf rund eine Million geschätzt (PIAAC-Erhebung, 2013). (1) Mit anderen Worten: Von 5,6 Millionen Österreichern im Alter zwischen 16 und 65 kann jeder fünfte nur unzureichend lesen (Aigner, 2013). Da ist es nachvollziehbar, dass längere Texte ungern gelesen werden, selbst wenn sie nicht ausgesprochen anspruchsvoll sind.
Soziale Medien verstärken Phänomen tldr und funktionalen Analphabetismus
Verstärkt wird funktionaler Analphabetismus seit gut fünfzehn Jahren durch den Gebrauch digitaler, vor allem Sozialer Medien. Text-Happen von 160 Zeichen (SMS) oder 140 (Twitter) oder meist kurze Statusmeldungen auf Facebook, Google Plus, WhatsApp etc.pp. modellieren Lese- und Schreibgewohnheiten nachhaltig.
Instagram erweist sich als besonders angepasst an dieses Nutzerverhalten, indem es Kommunikation auf Bilder mit Kurztexten konzentriert. Twitter, eigentlich ein Kurztext Dienst hat schon vor einiger Zeit begonnen, Bilder und Videos stärker zu integrieren, um auf Instagram angemessen zu reagieren. Denn Instagram hat mit 300 Millionen Nutzern mittlerweile Twitter mit 284 Millionen überholt. Selbst Twitter ist offenbar noch zu textlastig. Bilder mit nur kurzen Bildunterschriften waren schon bei Boulevard Zeitungen wie Krone und Bild die Erfolgstreiber.
tldr ist nicht nur eine Folge reduzierter Lesekokmpetenz
Das Phänomen des tldr findet sich ebenso bei jenen, die leidenschaftlich gerne Bücher lesen und dabei nicht vor Schmökern zurückschrecken, wobei das Leseverhalten beim Lesen von Büchern sich durchaus uneinheitlich gestaltet. Tendenziell werden Bücher nicht "von vorne bis hinten" gelesen. Es wird geblättert, überblättert und nur dort "genau" gelesen, wo es spannend oder interessant ist. Lässt die Attraktivität nach, wird nach der nächsten spannenden Stelle oder Passage gesucht. Der Anspruch, ein Buch ganz zu lesen und zu verstehen verliert dabei zunehmend an Bedeutung.
tldr relativiert die Aussagekraft einiger zentraler Kennzahlen im Online-Marketing
Tony Haile hat in seinem Beitrag "What You Think You Know About the Web Is Wrong" im Time Magazin vom 9.3.2014 u.a. folgende zwei Mythen aufgezeigt, die sich im Zusammenhang mit tdlr aufdrängen:
# Fehlannahme 1: Wir lesen worauf wir geklickt haben
Untersuchungen, die viele mit Blick auf die Ergebnisse ihrer Webanalysen in ähnlicher Weise bestätigen können, zeigen, dass die durchschnittliche Verweildauer von über 30 Prozent der Besuchern auf Artikel Seiten bei unter 15 Sekunden liegt. (Bezogen auf Site-Impressions allgemein verlassen mehr als die Hälfte der Besucher nach weniger als 15 Sekunden die Seiten wieder.)
Das entzaubert Page Impression und CTR (Click-Through-Rate). Sie können nur darüber Auskunft geben, wie viele Besucher auf der jeweiligen Seite "gelandet" sind, nicht jedoch über das Leseverhalten, bzw. ob und welche Informationen gelesen wurden, d.h. ob es den Autoren / Unternehmen gelang ausreichende Zuhörerschaft zu gewinnen.
Diese Erkenntnis sollte eine Fixierung auf CTR mit all den unappetitlichen Formen der Bauernfängerei wie bspw. Linkbaits aushebeln. Letztlich geht es darum, Besuchern so viel Nutzen zu bieten, dass sie wiederkommen.
# Fehlannahme 2: Je mehr wir teilen, desto mehr lesen wir
Zumeist gehen wir davon aus, dass weitergeleitete, geteilte Artikel auf besonderes Interesse beim Leser gestoßen sind und unterstellen, dass dieser Besucher den Artikel auch tatsächlich gelesen hat. Das ist aber i.d.R. nicht der Fall. Vielmehr kommt es gar nicht so selten vor, dass Empfehlungen weitergeleitet werden, ohne dass die jeweilige Seite des Empfehlungslinks selbst besucht wurde, z.B. bei ReTweets. So korreliert die Reichweite nicht zwangsläufig linear mit der Leserschaft. Zwei, drei aktivierende Schlagwörter werden oft schon als Indiz für die Relevanz eines Links gesehen. Bei likes verhält es sich nicht wesentlich anders. Haile kommt zum Schluss: "A widespread assumption is that the more content is liked or shared, the more engaging it must be, the more willing people are to devote their attention to it. However, the data doesn’t back that up"
KISS - Wichtiger denn je in der Marktkommunikation
"Keep it small and simple" ist akuteller denn je. Wobei sich dies nicht nur auf Texte bezieht, sondern auch auf die Wahl der Kanäle selbst. Wenn es zur Aktivierung von Besuchern ausreicht, ein Foto mit einer Tagline auf Instagram zu posten, dann sollte daraus kein Blogpost gemacht werden.
Die Lesebereitschaft sowie die Lesekompetenz der jeweiligen Zielgruppen sollten für die Wahl sowohl der Kommunikationskanäle als auch für das Format und den Schwierigkeitsgrad der Texte, bzw. der Text Bild Kombination wesentlich berücksichtigt werden. Das erfordert mehr Zeit für die Strategiebildung und ebenso zeitaufwändigere Entwicklung von Taktiken.
Copywriting muss noch mehr als bisher zielgruppenspezifisch unter dem zusätzlichen Aspekt eines tldr erfolgen. Dabei wären u.a. Eye-Tracking Analysen der jeweiligen Zielgruppen unterschieden nach Leseverhalten hilfreich, da davon auszugehen ist, dass die 1 Million Österreicher mit funktionalem Analphabetismus anders liest als die 470Tausend mit entsprechender Lesekompetenz.
Aigner, Lisa (2013): Fast eine Million Österreicher können nur unzureichend lesen. In: derstandard vom 8.10.2013. URL=http://derstandard.at/1379293384170/Fast-eine-Million-Oesterreicher-koennen-nur-unzureichend-lesen [29.12.2014]
Güntner, Joachim (2013): Funktionaler Analphabetismus. Ein Kollateralschaden der Wissensgesellschaft. In: NZZ vom 2.4.2013. URL=http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/uebersicht/ein-kollateralschaden-der-wissensgesellschaft-1.18056473 [29.12.2014]
Haile, Tony (2014): What You Think You Know About the Web Is Wrong. In: Time.Com 9.3.2014. URL=http://time.com/12933/what-you-think-you-know-about-the-web-is-wrong/ [30.12.2014]