Social Media und das Problem rationaler Entscheidungen
Viele Unternehmen hören „Social Media”, d.h. eigentlich hören sie Facebook, Google, Twitter usf., und schon vertrauen sie irrational den zahllosen Werbeversprechen von Agenturen, Social Media Unternehmen und Social Media Beratern. Als würde Marketing gerade neu erfunden. Der ‚Will haben Reflex’ (WhR) setzt ein, jener Reflex, der am wirksamsten das, was die Theorie ‚Rational Coice’ nennt, auszuhebeln vermag.
Do Not Jump On Every Bandwagon
Warum glauben so viele, dass Web 2.0 Social Media so etwas wie das ‚Digitale Schweizer Taschenmesser’ des Marketing schlechthin sei? Warum glaubt man, dass das, was in einigen Unternehmen gut funktioniert, auch im eigenen funktionieren muss? Warum lassen sich so viele Unternehmen ohne klare Prüfung und Strategie von gepushten Hypes so vernebeln?
Von Agenturen getrieben
Die letzten fünfzehn Jahre waren für viele Webagenturen goldene Jahre. Zum Geschäft mit der Gestaltung von Webseiten sind Social Media Präsenzen hinzu gekommen und zuletzt die Entwicklung und Gestaltung von Apps. Das waren oft sehr gut bezahlte Aufträge und in vielen Fällen leicht verdientes Geld.
Dass Leistungen von Webagenturen oftmals völlig überteuert sind, hat mehrere Ursachen. Ein intransparenter Markt und vor allem die Uninformiertheit von Unternehmen machen das möglich (siehe: Principal-Agent / Informationsasymmetrie). Dazu kommt, dass seit Jahren zahllose Anbieter auf den Markt drängen, die sich selbst als Web- oder Social Media Agenturen, auch Marketing-Agenturen bezeichnen, mit geschickten Werbeversprechen und oftmals vordergründig gefälligen Lösungen auftreten, aber tatsächlich oftmals dilettieren. Die wirklich guten Agenturen sind leidtragend, müssen sie sich mit dem zunehmend schlechten Image der Branche herumschlagen. Für Etablierte ist das nicht so sehr das Problem, wohl aber für Markteinsteiger.
Webagenturen treiben Unternehmen regelrecht vor sich her, gilt es doch die Cash-Cows in Bewegung zu halten. Dem arbeiten die kurzen Innovationszyklen in der Internet- und Kommunikationstechnologie (IKT) ebenso zu wie die fortlaufenden Hypes, jene Bandwagons, auf die Unternehmen aufspringen sollen, um ihre Zukunft nicht zu versäumen.
In immer kürzeren Wellen kommen vermeintliche Innovationen und neue Hypes auf Unternehmen zu. Was Unternehmen versprochen wird klingt für viele derart attraktiv, dass sie dabei vergessen, wie dumpf sich oft vorbei gezogene Hypes ausnehmen, solche, die sich im ‚Trough of Desillusionment’ des Hype-Cycle verloren haben.
Fast scheint es, als leide das Marketing vieler Unternehmen an selektiver Wahrnehmung. Viele Unternehmen, die sich die Mühe machen, all die ‚Jumps On Bandwagons’ nachzuvollziehen und danach zu Fragen, was am Ende des Tages davon übrig blieb, sind am Ende der Evaluation zumindest deutlich ernüchtert, bei manchen bleibt so etwas wie ein „Kater” zurück.
Fehlende Ziele und Strategien
Getrieben von der Angst den Anschluss zu verlieren und gelockt von der gebührenfreien Nutzung zahlreicher Social Media Anwendungen und Netzwerke starten viele Unternehmen auf das Geratewohl, ohne sich groß Gedanken über Ziele und Strategien zu machen und darüber, ob das mit den Unternehmenszielen und Strategien vereinbar ist. Ein Verhalten, das sich oft bei Mitnahmegeschäften zeigt. Manchmal gewinnt man den Eindruck, Social Media Engagement sei ein Steckenpferd.
In nicht wenigen Marketingabteilungen entwickelt sich von einem anfänglich spielerischen Umgang nahezu eine gewisse Verbissenheit, belanglose Scores zu erreichen, besser zu sein, als Kolleg_innen, vor allem aber die Wettbewerber. Verschiedentlich drängte sich mir der Eindruck eines gewissen Suchtverhaltens auf. Das ist ein typisches Verhalten von sog. Newbies, denen man im Unternehmen gerne diese Kanäle überlässt, weil sie sehr motiviert scheinen. Aber reicht das allein schon aus?
Jedenfalls gibt es gar nicht wenige Fälle, in welchen die Praxis des Social Media Marketings aus der Perspektive der Unternehmensziele mehr als fragwürdig erscheint.
Social Media Controlling ist noch ein Fremdwort
Manche Unternehmen denken: „Nutzt es nichts, so schadet es nicht.” Doch das ist ein Irrtum. Denn selbst ‚gebührenfreie’ Social Media Nutzung ist nicht kostenlos. Es summieren sich schnell Kosten für interne und externe Ressourcen, zusätzliche Servicekosten, für Advertising usf. und das teilweise zu beachtlichen Beträgen, Beträgen, die sich in den meisten Fällen noch nicht einmal amortisieren.
Geschäftsführer sollten den Test machen: Bitten Sie Ihre Social Media Verantwortlichen Ihnen eine Zusammenstellung der Kosten (nicht nur zu den Fremdleistungen und Anschaffungen) zu geben. Und wenn Sie das weiter treiben wollen, fragen Sie auch gleich nach dem Outcome (nicht Output) oder dem Outflow. Die Verlegenheit wird groß sein.
Kosten sind nur dann zu rechtfertigen, wenn Ihnen etwas gegenüber gestellt werden kann. Im Bereich von Sales wären das über die jeweiligen Kanäle erzielte Umsätze. Im Bereich Service wäre das eine nachzuweisende höhere Kundenzufriedenheit und Steigerung einer wertschöpfenden Customer Experience. Im Bereich Branding und Markenführung könnten die Steigerung der Bekanntheit und Markenbindung angeführt werden. In Bezug auf Employer Branding die erfolgreichen Rekrutierungen wertvoller Mitarbeiter_innen, usf. Die Schutzbehauptung, dass es bei Social Media schwierig sei, den Return on Investment, oft auch Return on Engagement genannt, nachzuweisen, sollte keinesfalls als Ausrede akzeptiert werden, das nicht zu versuchen, oder auf Pseudo Scores zu verfallen.
Zweifellos gibt es Branchen und Unternehmen, die mit entsprechend professionellem Umgang mit Social Media sehr erfolgreich sind und sehr beachtliche Umsätze erwirtschaften. Für das Gros der Unternehmen trifft das so sicherlich nicht zu.
Conrad Lienhardt