Prägende Jahre im Gymnasium am Rand der Bundesrepublik
Der Terror in Nordirland und der der RAF begleiteten meine Gymnasialzeit. Im Jahr nach dem sogenannten ‚Deutschen Herbst’ habe ich mein Abitur gemacht. Seit damals hat mich das nicht losgelassen, nicht so sehr der Terror als solcher, vielmehr die Fragen, ob Terror im Kampf um eine gerechtere Gesellschaft als Mittel taugt, was unter einer gerechten Gesellschaft verstanden werden kann und unter welchen Bedingungen das erreicht werden könnte.
Als wäre es gestern gewesen, ist mir eine abendliche Diskussion - eine von vielen - in Erinnerung. Wir saßen im mittlerweile dunkel gewordenen Arbeitszimmer des Vaters meines Freundes, eine kleine Runde politisch engagierter Schülerinnen und Schüler. Uns alle verband die Frage, wohin sich unsere Gesellschaft entwickelt und was das für unsere Zukunft und unsere Lebensvisionen bedeuten könnte.
Frühe Einflüsse
Unser Gymnasium galt als das Bayerische Sibirien. Einige der jungen Referendarinnen und Referendare, die hierher kamen, hatten sich wohl politisch in Folge der 68er Jahre engagiert und waren bei der mit absoluter Mehrheit in Bayern herrschenden CSU in Ungnade gefallen. Es war anscheinend die Absicht, die sogenannten Links-Intellektuellen im zutiefst konservativen Niederbayern auszusetzen und dort quasi auf die harte Tour zu kurieren, völlig in der Einschicht, am damals östlichsten Gymnasium der Bundesrepublik Deutschland. Das war hart für die Referendarinnen und Referendare, für uns war das aufregend und bereichernd und trug dazu bei, unser Interesse an Politik und Gesellschaft früh zu wecken. So verfolgten wir mit unseren 13 Jahren die erstmals live im Fernsehen übertragene Bundestagsdebatte anlässlich des Misstrauensvotums gegen die Regierung Brandt am 27. April 1972 und versuchten die Mechanismen des Parlamentarismus und die Tücken von Mehrheitsbildungen und Kampfabstimmungen zu verstehen. Der häufige Wechsel der Referendarinnen und Referendare ebbte erst nach Jahren allmählich ab.
Die Oberstufenreform und ihre Folgen
Ohne Zweifel hatten die Student*innenrevolten etablierte politische Parteien, die Wirtschaft und große Teile der Gesellschaft aufgeschreckt. Besonders als einzelne Gruppierung in den Untergrund gingen und sich radikalisierten. Gerade die Politik setzte alles daran, das kritische Potenzial junger Deutscher auszubremsen.
Die Bildungsreform, insbesondere die Oberstufenreform an Gymnasien und die damit einhergehende Erhöhung von Leistungsdruck und die Funktionalisierung von Bildung in Richtung Ausbildung schienen offenbar eines der Instrumente dazu zu sein. Für uns war diese Änderung besonders spürbar, hatten wir doch in den Anfangsjahren unserer Gymnasialzeit über die „verbannten” Referendar*innen ganz anderes kennengelernt.
Feedback am Ende der Gymnasialzeit
In der Abiturrede 1978, nach dem Abschluss der K13 zogen wir mit Blick auf den Leistungs- und Notendruck, folgendes Resümee: Bedenklich wird diese Situation sicherlich dann, wenn eben dieser Leistungsnachweis in Form von Prüfungen aller Art nach und nach zum Zentrum der Ausbildung, zur Dauererscheinung wird – bedenklich deshalb, weil sich das ganze Denken und Lernen des Schülers dann weniger am Inhalt orientiert, sondern sich immer mehr nach Gesichtspunkten der Rentabilität, der Verwertbarkeit, des direkten Wiederverkaufswert gegen ‚Punkte’ vollzieht.
Und weiter meinte das Autor*innenkollektiv dieser Rede: Die gegenwärtige Tendenz zielt durch die Kollegstufe in eine verengende, spezialisierende Richtung, hin zum Fachwissen. Der dadurch bedingte Konflikt mit dem gymnasialen Allgemeinbildungsideal drückt sich nun in erster Linie in einer erhöhten Forderung an den Schüler aus. […]
Eine, wie wir finden, besonders traurige Auswirkung dieser Situation ist die Beeinträchtigung des Schulklima, des persönlichen Miteinanders vor allem unter uns Schülern. […]
Die Rede von Carl Friedrich von Weizsäcker zum Thema Terrorismus, die Bundespräsident Dr. Walter Scheel allen Abiturient*innen zukommen ließ, was sicherlich, gerade mit dem Hinweis auf die komplexe Motivation des Terrorismus und der Warnung davor, ihn nur als isoliertes Phänomen zu verstehen, als eine Aufforderung an uns gerichtet war, sich darüber Gedanken zu machen gemeint, woran wir Abiturienten schon allein deshalb nicht vorbei können, da beinahe alle Terroristen sich auf unserem jetzt erreichten Bildungsstand befinden. Auch ist in diesem Zusammenhang sicherlich der Tatsache Rechnung zu tragen, dass es sogar in unserem provinziell ländlichen Raum junge Menschen gibt, die diesen Gedanken nicht von vornherein von der Hand weisen.
Was war?
Es war die Zeit, in der viel im Umbruch war und wir wurden davon erfasst. Da unsere Schule erst zwei Jahre, bevor wir ans Gymnasium kamen gegründet worden war und wir in eine neu gebautes Schulgebäude einzogen, gab es keine Tradition und keinen Hausgebrauch. Es musste sich alles erst einspielen. Die Lehrer*innen waren zumeist jugendlich und viele darunter unkonventionell. Nach der Grundschule war daher das Gymnasium eine neue Erfahrung.
Wir alle hatten wenig bis fast nichts von der Welt gesehen. Jugendliche in den 70er Jahren hatten eine deutlich geringere Reichweite als Jugendliche der Nuller- oder Zehnerjahre dreißig, vierzig Jahre später. Es gab kein Internet, keinen Mobilfunk. Reisen war für Jugendliche, von Interrail einmal abgesehen, auf Urlaube mit Eltern beschränkt und diese führten bestenfalls ins benachbarte europäische Ausland, bevorzugt nach Italien, seltener in die Schweiz und oder nach Frankreich. Radio, Fernsehen und vor allem Bücher und Zeitungen waren unsere Fenster und Zugänge zur Welt - wobei man damals „Welt” etwas kleiner dachte und erlebte, als heute.
Schulze sprach von der Zeit des Wertewandels, einer Zeit, in der Autoritäten zunehmend in Frage gestellt wurden, die Vorstellung von materiellem Erfolg und klassischen Karrieren brüchig wurden.
Lesen Sie die ungekürzte Abiturrede des Abiturient:innen-Jahrgangs 1978 am Gymnasium Untergriesbach
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