Was mir Sorgen macht: Lügen als Mittel der Staatsraison
Das übliche politische Geschäft. Es wäre naiv zu glauben, dass Lügen nicht Teil dieses Geschäftes sind, fast möchte man sagen, immer schon waren. Waren die gefälschten Beweise über die Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak, die Colin Powell im UN Sicherheitsrat am 5.2.2003 vorlegte, Lügen aus Staatsraison? Oder diente die Lüge nicht eher der ‚Corporate Invasion of Iraq’, dem Einmarsch der Konzerne in den Irak? Stichwort Donald Rumsfeld und die Ölindustrie. Haben sich Technokraten der Politbürokratie von Lobbyisten der U.S. Konzerne manipulieren lassen und glaubt sie an die Notwendigkeit der Lüge aus Gründen der Staatsraison?
Selbst die Vertuschung von Lügen wird mit Staatsraison gerechtfertigt, wie die Verfolgung von Whisleblowern u.a. Daniel Ellsberg, Chelsa Manning, Edward Snowden belegen. Ohne Whistleblower wäre beispielsweise nicht bekannt geworden, dass die u.s.amerikanische Öffentlichkeit rund um den Vietnamkrieg angefangen von Präsident Truman, über J.F. Kennedy bis zu Richard Nixon systematisch belogen wurde. Selbst als die Pentagon Papers in der New York Times auszugsweise veröffentlicht wurden, versuchte Nixon die weiteren Veröffentlichungen mit aller Gewalt unter Hinweis auf die Staatsraison zu unterdrücken. Die Hinweise, die Thomas Tamms aus dem U.S. Justizministerium illegal 2004 dem Journalisten Eric Lichtblau von der New York Times gab und die Aufdeckungen Snowdens belegen, dass Georg Bush jr. wissentlich und mehrfach die Bevölkerung über die verfassungswidrigen Abhörungen der Bürger der U.S.A. durch die NSA belogen hat. Es gäbe zahllose weitere Bespiele aus den U.S.A.
Vladimir Putins Lügen rund um die Annexion der Krim sind fast schon zynisch zu nennen – s. Spezialeinheiten ohne Hoheitsabzeichen. Donald Trump geht sogar noch einen Schritt weiter. Er lügt und es ist ihm dabei völlig einerlei, dass Fact Checker bspw. der Washington Post 78 Prozent von 158 seiner Behauptungen im U.S. Präsidentschaftswahlkampf als Lügen entlarvten. Er hat erkannt, dass selbst die offensichtlichsten Lügen von jenen für wahr gehalten werden, zumindest deren Sympathien gewinnen, die davon profitieren, sich in ihren Ressentiments bedient fühlen.
Für diese neue Qualität von Lügen kam 2016 das Wort ‚postfaktisch’ in Umlauf. Es geht in vielen Fällen, wie bspw. auch rund um die Brexit Lügen letztlich nicht mehr um Staatraison, sondern vielfach um schamlose persönliche Vorteilnahme. Damit rückt Lügen zunehmend in den Kontext von Korruption und organisierter Kriminalität. Wolfgang Hetzer formulierte das 2010 im Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung OLAF so: „In der OK spiegeln sich die moralischen und ethischen Widersprüche einer Gesellschaft, die Lebenslügen der bürgerlichen „Wohlanständigkeit” und die Folgen politischer Täuschungen zum Zwecke des Machterwerbs; sie ist auch eine Folge der egomanisch-asozialen Energien, die Amts- und Funktionsträger in Verwaltung, Wirtschaft und Politik zur Verteidigung ihrer Positionen entwickeln.”
Was ist schon Wahrheit, was Lüge?
Gotthold Ephraim Lessing meinte gegenüber Matthias Claudius: „Jeder sage, was ihm Wahrheit dünkt, und die Wahrheit selbst sei Gott empfohlen.” Es fällt kritischem Denken nicht schwer, so etwas wie eine absolute Wahrheitseinsicht in Frage zu stellen, den Besitz absoluter Tatsachenwahrheiten. Letztlich ist das der Grund von Meinungs- und Gedankenfreiheit.
Das bedeutet nicht, dass bspw. geschichtliche Tatsachen wie Meinungen gehandelt werden können. Wenn ein Welser Anwalt einen Mandanten verteidigt und dabei meint: „Es ist strittig, ob in Mauthausen Vergasungen und Verbrennungen stattgefunden haben. Was man seinerzeit in Mauthausen zu Gesicht bekommen hat, ist eine sogenannte Gaskammer, die nachträglich eingebaut wurde. Unbekannt ist, ob dort jemals eine Gaskammer vorhanden war” (zit nach SN, 2.11.16), dann wird hier eine geschichtliche Tatsache geleugnet. Es kann sein, dass der Jurist geschichtlich ungebildet ist. Es kann aber auch sein, dass er wider besseren Wissens diese Aussage tätigte, als Mittel zum Zweck, um seinen wegen Wiederbetätigung beschuldigten Mandanten besser nutzen zu können. In diesem Fall hätte er eine geschichtliche Tatsache nicht nur geleugnet, sondern schlichtweg gelogen. Dass die Strafanzeige der Welser Staatsanwaltschaft gegen diesen Juristen wegen Wiederbetätigung durch den sog. Weisungsrat im Justizministerium unterdrückt wurde, mit der Begründung, es gäbe keine ausreichende Verurteilungswahrscheinlichkeit, erweckt den Eindruck, als intervenierte der Weisungsrat im Glauben, er handle im Sinne der Staatsraison — oder vielleicht doch aus Corpsgeist? (Siehe dazu meinen Beitrag: Was ist bei Wiederbetätigung misszuverstehen?)
Lüge ist die wissentliche Behauptung einer falschen Tatsache
Von Lügnern und Verlogenen
Es spricht einiges dafür, dass derjenige, der selbst an seine Lügen glaubt, glaubwürdiger andere davon überzeugen kann. Dieser Lügner ist deutlich gefährlicher als Lügner, die wissen, dass sie lügen. Sie sind außerstande rational zu handeln, d.h. sie können nur scheinbar rational innerhalb des Lügengeflechts handeln. Dies kann schwerwiegende Folgen nach sich ziehen. Recep Tayyip Erdoğan könnte hier angeführt werden. Sein Ehrgeiz und seine Machtphantasien haben ein ganzes Geflecht an Lügen, Unterstellungen und Diffamierungen geschaffen, Verschwörungstheorien, an die Erdoğan mittlerweile selbst glaubt. So führt er die Türkei nicht nur in eine pseudodemokratische Diktatur, sondern brachte dem Land Terror, Krieg und wirtschaftlichen Abschwung. Hannah Arendt nennt sie die „Verlogenen”. Gerade das Beispiel Erdoğan zeigt, was passiert, wenn Lügen einen Gesamtzusammenhang „umlügen und so einen neuen Wirklichkeitszusammenhang bieten. Was hindert eigentlich diese erlogene Wirklichkeit daran, zu einem vollgültigen Ersatz der Tatsachenwahrheit zu werden, in dem sich nun die erlogenen Einzelheiten ebenso nahtlos einfügen, wie wir es von der echten Realität her gewohnt sind?” *
Andererseits war Karl Jaspers der Auffassung: „Recht lügen können nur die Wahrhaftigen” * oder wie Fjodor Dostojewski es ausdrückte, die „Kaltblütigen”. Damit meinen sie, dass im eigentlichen Sinne Lügner diejenigen sind, die wissen, dass sie lügen. Hier wird Lügen instrumentalisiert, ist Mittel zum Zweck. Das setzt ein gewisses Maß an rationaler Einsicht voraus. Wobei sich auch für diesen Fall nicht alles, was in Gang gebracht wird, wieder einfangen lässt. Denken wir an Nigel Farage und Boris Johnson. Kein Zweifel, beides „begnadete” Lügner. Am Tag nach der Abstimmung machten Sie einen mehr als überraschten Eindruck. Sie hatten offenbar nicht mit dem Ergebnis gerechnet. Beide traten dann auch die Flucht an: Farage gab seinen Abgang als Parteichef der rechtspopulistischen Ukip bekannt und Johnson zog seine Kandidatur für den Premierminister zurück. Beide wollten sich der Verantwortung entziehen, für die Geister, die sie riefen, politisch Verantwortung zu übernehmen.
Lügen als strukturelles Phänomen
Hannah Arendt verweist auf ein „tödliches Amalgam von ‚Machtarroganz’ […] mit der rein intellektuellen Arroganz von professionellen Problem-Lösern und ihrem völlig irrationalen Vertrauen in die Berechenbarkeit der Wirklichkeit” * Seit Arendt das 1967 geschrieben hat, ist die Hybris der „professionellen Problem-Löser” angesichts des enormen technologischen Fortschritts geradezu explodiert. Es ist, als hätten sie „den Verstand verloren, weil sie der Rechenkraft ihrer Gehirne mehr trauten als der Urteilskraft und der Fähigkeit, Erfahrungen zu machen und daraus zu lernen.” *
Es gibt gar nicht so wenige Politiker und Lobbyisten, die so von sich, ihren Ansichten und Meinungen überzeugt sind, dass Sie allen Ernstes denken, Lügen sei ein probates strategisches Mittel und Lügen seien beherrschbar. Mit einer enormen Rechnerkraft im Rücken werden Szenarien simuliert und analysiert, optimiert und verfolgt. Es hat den Anschein, als seien sie in Algorithmen gefangen und urteilten in einer Filterblase. In Zeiten, in welchen behauptet wird, dass via Algorithmen Sirenenserver mehr über die Nutzer wissen als sie selbst, in welchen allen Ernstes geglaubt wird, menschliches Verhalten können sicher prognostiziert werden, schießt die Hybris durch die Decke, Menschen könnten umfassend manipuliert werden.
Organisiertes Lügen zerstört die Grundlagen des Zusammenlebens
Es ist ja nicht gerade so, dass die Bevölkerung durch Lügen nur manipuliert wird. Die Auswirkungen von Lügen auf sie sind gravierender. „Wo Tatsachen konsequent durch Lügen und Totalfiktionen ersetzt werden, stellt sich heraus, daß es einen Ersatz für die Wahrheit nicht gibt. Denn das Resultat ist keineswegs, daß die Lüge nun als wahr akzeptiert und die Wahrheit als Lüge diffamiert wird, sondern dass der menschliche Orientierungssinn im Bereich des Wirklichen, der ohne die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit nicht funktionieren kann, vernichtet wird.” * Und weiter bringt es Hannah Arendt auf den Punkt: „Konsequentes Lügen ist im wahrsten Sinne des Wortes bodenlos und stürzt Menschen ins Bodenlose, ohne je imstande zu sein, einen anderen Boden, auf dem Menschen stehen könnten, zu errichten.” * Ist dieser Punkt erreicht, wird es schwer sein, in einer korrumpierten Gesellschaft Demokratie, wie wir sie kennen, aufrecht zu erhalten.
„Was hier auf dem Spiel steht, ist die faktische Wirklichkeit selbst, und dies ist in der Tat ein politisches Problem allererster Ordnung.” 1