Das Gerede von ‚postfaktisch’ ist gefährliches Geschwätz
‚Postfaktisch’ - diese Wortschöpfung schaffte es im Buzz zum Wort des Jahres, international ist es das Wort ‚Post-Truth’. Erst am 16. September wurde der Eintrag „Postfaktische Politik” in der deutschsprachigen Wikipedia angelegt. Der Begriff ‚Post-Truth’ taucht zwar erstmals 2004 im Buchtitel Ralph Keynes auf: „The Post-Truth Era. Dishonesty and Deception in Contemporary Life”, in der englischsprachigen Wikipedia findet sich der Begriff ebenfalls erst seit 11. Juli 2016. Letztlich ist es den Propagandamaschinen rund um den Brexit geschuldet, dass diese Begriffe populär wurden. Donald Trumps Wahlkampf toppte das noch.
Was steckt hinter den Neologismen von ‚Post-Truth’ und ‚Postfaktisch’?
Der Trick zum Begriff ‚Post-Truth’: er soll Lügnern Glaubwürdigkeit retten
Das Gegenteil von Wahrheit ist nicht „Post-Truth”, sondern Lüge. Es stellt sich die Frage, warum man seit einigen Monaten im politischen Diskurs Lügen immer häufiger mit dem Begriff „Post-Truth” umnebelt. In Abwandlung eines Zitats von Gertrude Stein bleibt festzuhalten: ‚Eine Lüge ist eine Lüge ist eine Lüge ist eine Lüge’.
Ein neuer Sprachgebrauch will nun suggerieren, dass eine Lüge nicht unbedingt eine Lüge sein muss, sondern ,„Post-Truth”, also etwas anderes sein kann, etwas, das im politischen Diskurs „Wahrheit” ablöst, also nicht im Gegensatz zu ihr steht. Er will uns glauben machen, dass im Begriff „Post-Truth” das Gegensatzpaar Wahrheit-Lüge aufgehoben sei, keine Relevanz mehr habe, keine Rolle mehr spiele.
Diese, ich bezeichne es flapsig ‚Trickserei’ soll gewissermaßen vielen Menschen mit einigermaßen funktionierenden Moralvorstellungen („Du sollst nicht lügen!”) quasi einen Beipass bieten, mit Lügnern zumindest in der Politik besser zurecht zu kommen.
Bekannt ist im Alltag die Formulierung: ‚Der lügt ja nicht; er sagt nur nicht die Wahrheit.’ Auf diese Art und Weise glaubt man die für Lügen eigentlich vorgesehenen Sanktionen umgehen zu können, vor allem die Prognose: ‚Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, auch wenn er mal die Wahrheit spricht.’ Lügen wird i.d.R. als gravierender und unverzeihlicher Charakterfehler gesehen. Neurologische Forschungen bestätigen, dass das Lügen mit der Zeit immer leichter fällt und die Gefahr einer Habitualisierung groß ist. Noch gilt, dass eine Sanktionierung der Lügner und ihrer Lügen unerlässlich ist, will eine Gesellschaft nicht im Chaos versinken. Das wird mit „Post-Truth” letztlich in Frage gestellt.
Nun neigen Strategen, insbesondere im Umfeld von Propaganda, nicht selten dazu, Lügen quasi als ‚rhetorische Figur’ einzusetzen. Es wird eine Lüge verbreitet, die, selbst wenn es sich offensichtlich um eine Lüge handelt, ihren Zweck erfüllen kann, z.B. jemandes Image zu beschädigen oder Wähler zu beeinflussen. Die Herausforderung dabei ist, sicherzustellen, dass Lügen die Glaubwürdigkeit des Lügners nicht beschädigen - so paradox das auch klingen mag.
Dass Boris Johnson bewusst gelogen hat, um die Abstimmung am 23. Juni 2016 in Richtung Brexit zu beeinflussen, ist bekannt. Trotz all der Lügen scheint er jedoch seine Glaubwürdigkeit nicht (gänzlich) verloren zu haben. Wäre Johnson ansonsten im Kabinett von Theresa May Außenminister geworden? Einem Lügner die Vertretung des Landes nach außen anzuvertrauen wäre sträflich fahrlässig. Wie sollten andere Länder wissen, wann und unter welchen Umständen sie einem Johnson trauen könnten, bzw. ob überhaupt? Das ist letztlich nur möglich, weil das Phänomen, dass er gezielt und dreist gelogen hat, von der Person mit der Absicht abgespalten wurde, seine Glaubwürdigkeit dadurch nicht zu zerstören. Aber ist jemand der lügt glaubwürdig? Ist dieses Konstrukt, Lügnern Glaubwürdigkeit zu unterstellen nicht vergleichbar mit russisch Roulette bei 5 Patronen in den sechs Kammern eines Revolvers?
Ein Donald Trump stellt die bekanntesten Lügner rund um das Brexit Votum deutlich in den Schatten. Ich werde mit meiner Auffassung nicht daneben liegen, wenn ich behaupte, dass Donald Trump bisher wohl der verlogenste Präsident in der Geschichte der U.S.A. ist, bereits bevor er die Präsidentschaft formell angetreten hat. Sein Sieg baut - und das ist evident - auf Lügen auf – ob auch auf Wahlbetrug ist eine andere Diskussion.
Dreister und folgenschwerer wiegt eine Lüge, die damals nicht als ‚postfaktisch’ bezeichnet worden war: Colin Powell legt dem UN Sicherheitsrat am 5.2.2003 gefälschte Beweise vor, um erneut gegen den Irak in den Krieg ziehen zu können – mit all den bekannten Folgen bis herauf in die Gegenwart.
Oder denken Sie an die sog. Pentagon Papers, die durch den Whistleblower Daniel Ellsberg 1971 via New York Times und Washington Post an die Öffentlichkeit kamen und die belegten, dass die U.S. Öffentlichkeit von den U.S. Präsidenten Truman, Kennedy und Nixon bezüglich des Vietnamkriegs systematisch belogen worden war.
Im Alltagsleben machen Menschen um Lügner einen großen Bogen. Niemand will Lügner im Freundeskreis haben oder in der Familie. Niemand will Geschäfte mit Lügnern machen. Selbst ein häufiger Gebrauch von sogenannten ‚Notlügen’ führt letztlich im alltäglichen Leben zur Exklusion. Es spricht alles dafür, dass diese bewährte Praxis im Umgang mit Lügnern und Lügen nicht ausgehebelt wird, auch nicht durch Wortschöfpungen wie ‚Post-Truth’.
Der Trick zum Begriff ‚Postfaktisch’: er soll evidente Widersprüche verschleiern
Die ‚Eindeutschung’ des Begriffs ‚Post-Truth’ durch die Wortschöpfung ‚Postfaktisch’ ist nicht wirklich gelungen. Wahrheit und Faktizität sind nicht dasselbe und eine ‚Post-Wahrheit’ ist nicht ‚Postfaktizität’.
Allerdings kann das Leugnen von Faktischem durchaus auch als Lügen bezeichnet werden, dann, wenn es bewusst geschieht.
Andererseits; wenn jemand, der rot-grün blind ist und sich dessen noch nicht bewusst wurde, behauptet, ein grünes Kleid sei rot, dann behauptet er zwar etwas nicht zutreffendes, lügt aber dabei nicht.
Als man 1974 den japanischen Nachrichtenoffizier Onoda Hiro auf der philippinisch Insel Lubang auffand, war dieser immer noch davon überzeugt im Krieg zu sein. Zwar hatten er und drei seiner Kameraden bereits im Oktober 1945 erste Flugblätter mit der Information gefunden, dass Japan am 15. August kapituliert hatte und der Krieg zu Ende sei, sie waren aber davon überzeugt, dass es sich dabei um Feindpropaganda handelte. Sie setzten ihre Guerillaaktivitäten fort, in deren Folge 30 Menschen getötet, weitere 100 Menschen verletzt wurden und auch seine Kameraden umkamen. Onoda Hiro wurde deswegen jedoch nicht verurteilt. Seine Fakten waren andere und dieser Umstand war nicht gelogen. Es war ein tragischer Irrtum. Und auch wenn sein Guerillakampf bis in die 70er Jahre quasi als postfaktisch - im Sinne von nach dem historischen Faktum des Kriegsendes - bezeichnet werden könnte, es bleibt ein Irrtum.
‚Postfaktisch’ meint jedoch mehr. Mit dem Präfix „Post“ wird letztlich etwas bezeichnet, das sich zunächst nicht aus sich selbst definiert, sondern in Abgrenzung zu etwas anderem, einem Vorangegangenen. So richtig allgemein in Erscheinung getreten ist das Post-irgendetwas mit der Postmoderne, also der Zeit nach der Moderne. Ursprünglich war es ein offener Begriff, der die Überwindung der Moderne bezeichnen sollte, den Umstand, dass die Moderne zurückgelassen wurde. Erst später wurden damit die Phänomene selbst bezeichnet, z.B. als Stilbegriff, wie bei postmoderner Architektur.
Entsprechend bezeichnete ‚Postfaktisch’ die Zeit nach dem Faktischen. Aber was ist es, das an Faktisches anschließt? Ist Faktisches wie ein Stilbegriff oder eine Kategorie der Geschichtswissenschaft zu behandeln? Ist es vorstellbar, dass, wie die ‚Postmoderne’ wiederum durch eine ‚Zweite Moderne’ abgelöst wurde, das ‚Postfaktische’ schließlich von einer ‚Zweiten Faktizität’ abgelöst werden könnte? Faktisches 2.0 oder Faktizität 4.0? Wohl eher nicht.
Der so smart daher kommende Begriff des ‚Postfaktischen’ ist letztlich ein untauglicher Begriff, weil er mehr verschleiert als klärt. Er ist gewissermaßen ein Dekor, ein Potemkinscher Begriff, der bestenfalls die Abgehobenheit politischer, bzw. pseudo-politischer Wirklichkeiten beschreiben kann, nicht aber die Phänomene selbst.
Wenn mit dem Begriff ‚Postfaktisch’ kein eigener positiv beschreibbarer Inhalt verbunden werden kann, dann ist zu vermuten, dass dieser Begriff in erster Linie dazu dienen soll, Faktisches, also Fakten und ihre Bedeutungen, Tatsachen zu entwerten. Es wird dadurch der Eindruck erweckt, als sei Faktisches ein zeitgebundenes Etwas, das zurückgelassen werden kann, das Ergebnis einer Interpretation in Abhängigkeit vom Betrachter. Was wird aber bspw. aus dem Faktum ‚Armut’ in einer postfaktischen Betrachtung? Verschwindet Armut dadurch? Verschwindet das Phänomen ‚Armut’ wenn es in ‚postfaktischer’ Betrachtung quasi als ‚Post-Armut’ tituliert wird, um zu suggerieren, dass ein neues Qualitätslevel erreicht wurde, obwohl das Phänomen Armut unverändert fortbestehen würde? Was will ‚Postfaktisch’ in Bezug auf Flüchtlinge, Terrorismus, Ausbeutung von Menschen, Tieren und Umwelt aussagen? Ist ‚Postfaktisch’ nur ein Label für „rosarote Brille’ oder eine Betrachtungsweise à la Pipi Langstrumpf: „2 x 3 macht 4 - widdewiddewitt und 3 macht 9e ! Ich mach' mir die Welt - widdewidde wie sie mir gefällt.”
Der, der Lügen als probates Mittel zum poltischen Zweck gebraucht und mit dem Hinweise auf postfaktische Politik zu bemänteln sucht, der sollte als das bezeichnet werden was er ist: ein gemeiner Lügner. Was solche Zeitgenossen am wenigsten verdienen, ist Glaub- und Vertrauenswürdigkeit.
Das Bild zu diesem Beitrag zeigt einen Ausschnitt aus einer Radierung von Francisco de Goya mit dem vielsagenden Titel: Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. 1799, 216 x 152 mm; es ist das 43. Blatt aus der 80 Arbeiten umfassenden Mappe Los Caprichos, einem der bemerkenswertesten Radierzyklen der Kunstgeschichte.