Ein Fünftel der Österreicher_innen ist von Analphabetismus betroffen
Analphabetismus ist kein Randphänomen. Analphabetismus wird in drei Stufen beschrieben:
- Analphabetismus: Die Betroffenen haben nie Lesen und Schreiben gelernt (in Österreich immerhin 4 Prozent der Bevölkerung zwischen 16 und 65 Jahren, d.h. rund 225.000 Menschen) Siehe dazu auch folgenden Kommentar
- Sekundärer Analphabetismus: Die Betroffenen haben zwar Lesen und Schreiben gelernt, diese Fähigkeiten aber wieder verlernt.
- Tertiärer, bzw. Funktionaler Analphabetismus: Die Betroffenen können nicht sinnerfassend lesen und sind kaum in der Lage sich schriftlich auszudrücken. Das Lesen von Formularen, Beipackzettel, Kinoprogrammen etc. bereitet ihnen große Schwierigkeiten. (lt. PIACC Studie 2013 sind davon immerhin 960.000 Österreicher_innen betroffen, immerhin 17 Prozent der Bevölkerung)
- Geringe Literalität: Die Begrifflichkeit wurde im Zusammenhang mit den LEO-Studien (Level-One-Studien) von 2010 und 2018 geprägt. Im Grunde bezeichnet „Geringe Literalität” den Sachverhalt des tertiären bzw. funktionalen Analphabetismus. Begründet wurde die konkurrierende Begrifflichkeit im Fragebogen zu LEO 2018 damit, dass der Begriff „funktionaler Analphabetismus“ als stigmatisierend und als ungeeignet für die erwachsenbildnerische Praxis erachtet werde.
Die Studien wurden an der Universität Hamburg unter Leitung von Anke Grotlüschen durchgeführt.
Günter Anders benennt noch eine weitere Form des Analphabetismus, die in Zeiten digitaler Medien virulent ist:
- Postliterarischer Analphabetismus *: Die globale Bilderflut von heute. Anders spricht sogar von Ikonomanie
Selbst ohne die ‚Sekundären Analphabeten’ (hier habe ich keine verlässlichen Zahlen gefunden) sind über 21 Prozent der 16 bis 65jährigen Österreicher*innen in irgendeiner Form von Analphabetismus betroffen. Vgl. dazu auch meinen Beitrag „Zu lange, das lese ich nicht” - Folgen für das Marketing.
Wer Probleme mit Lesen und Schreiben hat, hat sehr häufig auch ein reduziertes Sprachvermögen und verfügt über einen geringeren Wortschatz. Nun ist der Zusammenhang von Sprache und Denkfähigkeit nachgewiesen. D.h. Menschen mit geringer Sprachfähigkeit sind i.d.R. nicht, jedenfalls weniger in der Lage, komplexe Sachverhalte und Zusammenhänge zu verstehen. Sie neigen dazu, diese zu simplifizieren. Entsprechend sind sie anfällig für simple Botschaften - seien das Werbebotschaften oder politische Propaganda.
Der politische Alltag belegt, dass große Teile der Bevölkerung mit der komplexen gegenwärtigen gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Entwicklung überfordert sind. Das macht diesen Angst. Angst reduziert die Fähigkeit zu verstehen weiter und macht diese Menschen empfänglich für Manipulationen.
Vor allem ist hier die spaß- und erlebnisorientierte Unterschicht und untere Mittelschicht betroffen, wie auch besonders die sogenannten Konsum-Hedonisten. Funktionaler Analphabetismus ist jedoch auch ein zunehmendes Phänomen in Akademikerhaushalten. Selbst bei Personen, die eine formale akademische Ausbildung durchlaufen haben, lässt sich fallweise der Verdacht auf funktionalen Analphabetismus nicht immer ausschließen. Die Verdeckungsstrategien sind teilweise sehr wirksam. Mein Plädoyer: Anstelle einer Steigerung der Akademikerquote wäre es sinnvoller, die Quote der Analphabeten zu senken. Zur Zeit gibt es in Österreich deutlich mehr Analphabeten als Akademiker.
Menschen mit geringem Bildungsniveau zählen vielfach zu den angenehmen Konsumenten. Sie geben teilweise viel Geld für Konsumgüter aus, sind tendenziell eher bereit sich für die Anschaffung von Konsumgütern zu verschulden und haben in der Regel weder Kenntnisse noch ausreichend Geld, um sich gerichtlich mit Unternehmen auseinanderzusetzen, die ihre Produktversprechen nicht halten, deren Serviceleistungen unzureichend sind usf.
Wer sich schwer tut, einfache Texte zu lesen und zu verstehen, ist bei den umfangreichen, sehr verklausulierten Allgemeinen Geschäftsbedingungen bei Rechtsgeschäften beispielsweise im Internet i.d.R. heillos überfordert.
Die rasante Entwicklung in der digitalen Wirtschaft, aber auch in zunehmend digitalisierten Abläufen im Gemeinwesen lässt diese Personengruppen hinter sich. Das Versagen der Bildungspolitik, von dem u.a. Colin Crouch meint, dass es nicht auf Unfähigkeit zurückzuführen sei, trägt das ihre dazu bei.
Die Folgen für den Wirtschaft aber auch für die Demokratie sind gravierend. Politik und Wirtschaft sollten aufhören, nur an die kurzfristigen Gewinne zu denken. Die Herausforderung „Analphabetismus” ist groß.